Montag, 21. April 2008
Lebensnachmittag
Mit Michael Mertes, der am 26. März seinen Geburtstag feierte und 55 Jahre alt geworden ist, verbindet mich über örtliche, berufliche und kirchliche Unterschiede hinweg eine langjährige Freundschaft, die über das Internet immer wieder einmal neu genährt wird. So erhielt ich auf meine artigen Geburtstagsgrüße eine eMail mit dem nachfolgenden Gedicht und darf es mit Erlaubnis des Autors hier im Blog veröffentlichen. Es paßt in gewisser Weise zu meinen Gedanken über die Kunst, das Leben zu verlängern, ist aber zugegebenermaßen abgeschlossener und gleichzeitig heiterer und beschwingter als meine Prosa. Es ist eben eine besondere Gnade, etwas zum Reimen bringen zu können.
Ich schicke voraus, daß Michael mich vor etwa drei Jahren mit einem Gedicht überrascht hat, das er in der strengen, alten Form eines Sonetts verfaßt hatte, bei Beibehaltung allerdings einer geraden, neuzeitlichen Sprache. Wenig später hat er dann seine Übersetzung sämtlicher 150 Sonette von Shakespeare in einem kommentierten Buch herausgebracht, in dem man sein schon allein vom Handwerklichen her hocherstaunliches Können bewundern und dabei eine ganze Welt über die berühmten Gedichte Shakespeares lernen kann.
Auf dem Foto sieht man ihn bei einer Vorstellung seines Buches vor etwa einem Jahr hier in Remscheid. Nun also etwas von Michael Mertes über das Leben in der Nähe der Sechzig.
ZWISCHENBILANZ
ZUM 55. GEBURTSTAG
Dein Lebensnachmittag hat schon begonnen,
der Lebensabend ist recht weit entfernt;
Du wirkst auf andre relativ besonnen,
hast aber lange noch nicht ausgelernt.
Als junger Mann, da warst du sehr heroisch,
berauschtest dich an Friedrich Hölderlin.
Jetzt magst du's eher temperiert und stoisch,
und Heinrich Heine hilft als Aspirin.
Inzwischen bist du Teil der Bourgeoisie,
trägst würdig deine Glatze und den Bauch.
In deinen Träumen herrscht die Anarchie,
doch keiner merkt's. (Man sagt: Das legt sich auch!)
Bisweilen wär ein neues Herz dir lieber,
wenn sich die alte Pumpe wieder quält;
ein kühles Herz, gewappnet gegen Fieber
und gegen Angst & Depression gestählt.
(Ist das dein Ernst? Wärst du bereit zu zahlen
den Preis, dass du das Beste lassen musst?
Gewiss, ein kühles Herz kennt keine Qualen,
doch Liebe auch nicht. Was für ein Verlust!)
Werd bloß nicht zynisch: Stell dich den Problemen
der andren Menschen, lass sie an dich ran.
Du sollst dich selber nicht so wichtig nehmen:
Kein Mensch ist eine Insel, sagt John Donne.
Werd bloß nicht bräsig: Jeder ist ersetzlich,
und Glück zu haben, das ist kein Verdienst.
Am meisten warst du immer dann verletzlich,
wenn du dir selber unbezwingbar schienst.
Werd bloß nicht abgeklärt und nicht apathisch,
denn Neugier hält Senioren länger fit.
Sei durchaus kompromissbereit-pragmatisch,
lauf aber nicht bei jeder Mode mit.
Werd bloß nicht mutlos: Nimm die Niederlagen
als Fingerzeig auf deine Grenzen an.
Die Liebe wird dich bis ans Ende tragen,
weil keine Macht sie je bezwingen kann.
Und Gott? Du bist ihm selbst noch nie begegnet,
doch seine Engel hast du oft erblickt.
Mit Liebe haben sie dich reich gesegnet
und, wenn's dir schlecht ging, unverhofft beglückt.
Erst wenn sie schon am Horizont verschwanden,
da wurd es dir mit einem Male klar,
da hast du plötzlich ganz genau verstanden,
dass dir ein Wunder widerfahren war.
Ein treuer Engel ist gar mitgekommen
auf deine Achterbahn, in den Tumult,
hat freundlich lächelnd deine Hand genommen
und dich beschützt mit himmlischer Geduld.
Die Kinder sind das größte Abenteuer:
Sie fahren mit, und - hast du nicht gesehn! -
schon sind sie fort, um gleich am eignen Steuer
auf große Abenteuerfahrt zu gehn.
Sie lehren dich, Metallica zu schätzen,
auch Iron Maiden und so manchen Krach;
doch wird dich Mozart stets noch mehr ergötzen,
auch Heinrich Schütz und sicher J. S. Bach.
Obwohl einst Kant in strengen Analysen
bewies, dass Gott sich nicht beweisen lässt,
hältst du sein Dasein dennoch für erwiesen
durch die Musik: Dort ist er manifest.
Indessen nimmst du ihm seit jeher übel,
dass er so viele Menschen leiden lässt.
Barmherzig will er sein? So unsensibel
besteht er nie den Philanthropentest!
Dass er mit bloßem Zuschaun sich bescheidet,
siehst du nicht ein; es macht dich ganz erbost.
Dass er an seiner eignen Ohnmacht leidet,
mag wohl so sein - doch wem hilft solcher Trost?
Es heißt, er trocknet schließlich alle Tränen -
ein Happy End, zu schön, um wahr zu sein?
Du möchtest solchen Zuspruch nicht erwähnen,
wenn einer sinnlos leidet Höllenpein.
So bleibt einstweilen manche Rechnung offen
und mancher Widerspruch bleibt ungeklärt
Dir bleibt bei aller Skepsis noch das Hoffen,
dass Manches mit der Zeit von selbst verjährt.
Dein Lebensnachmittag hat schon begonnen -
kein Grund zu Panik oder Hysterie!
Nichts ist verloren, Vieles schon gewonnen.
Auf, auf: There's such a lot of world to see!
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