Wüstenhagener Tagebuch
Montag, 2. Oktober 2023
In der badischen Toskana
Donnerstag, 21. September 2023
"Es ist in keinem anderen Heil"
Die Kuppel und der umlaufende Bibelspruch gehen auf den frommen König Friedrich Wilhelm IV. zurück, unter dessen Regierung zwischen 1840 und 1861 man Bibelworte aus Apostelgeschichte 4,12 und Philipper 2,10 zu dieser Inschrift zusammengefügt hat*. Das eine ist ein Wort des Petrus, das andere eins des Paulus. Wenn man den Zusammenhang liest, in den Paulus seine Wort gestellt hat (es beginnt bei "dass in dem Namen Jesu"), verliert das imperial klingende Bild vom Beugen aller Knie seine harte Gewalt und kehrt sich in das Gegenteil um. Denn der Gottesmann, vor dem sich am Ende der Zeiten die Menschen verneigen werden, ist eine demütige Gestalt, die sich aller Ehren und Würden entäußert hat, um in vollkommener Weise den Menschen zu dienen.
Mein verstorbener Vater hat das Paulus-Wort geliebt. Er hat seine eigene, in vielfacher Weise vom Mainstream der Kirchen abweichende Glaubensrichtung, die „Allversöhnung“, besonders an diesem Wort festgemacht. Er war der Überzeugung, dass die Menschen eines fernen Tages vollkommen freiwillig und aus echter Überzeugung Jesus huldigen werden. Für meinen Vater war es nicht vorstellbar, dass sie nur für einige Momente aus der Hölle geholt und später wieder dorthin zurückgebracht würden. Hier war im Gegenteil ein Moment, in dem alle Strafen und jegliches Höllenfeuer ihr Ende gefunden hatten – in der großen Versöhnung Gottes mit allen Menschen.Als ich zum ersten Mal von der Inschrift an der Kuppel gehört habe, dachte ich sogleich an meinen Vater und daran, dass er sich tief über diese Inschrift gefreut hätte.
Sie steht nun also über Berlin, auch wenn man sie nur aus der Nähe lesen kann. Gegen die vielen Kritiker möchte man mit Pontius Pilatus sagen: was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.
*ES IST IN KEINEM ANDERN HEIL IST AUCH KEIN ANDERER NAME DEN
MENSCHEN GEGEBEN DENN IN DEM NAMEN JESU ZUR EHRE GOTTES DES VATERS DASS IN DEM
NAMEN JESU SICH BEUGEN SOLLEN ALLER DERER KNIE DIE IM HIMMEL UND AUF ERDEN UND
UNTER DER ERDE SIND
(im Original in Großbuchstaben und ohne Satzzeichen)
Mittwoch, 13. September 2023
"Ihr verzehntet die Minze und den Kümmel"
So genügt es ihnen nicht, auf wichtige Erträge der Landwirtschaft eine Kirchensteuer zu erheben, sie wollen 10% auch von solchen Kleinigkeiten wie von Minze und Kümmel haben.
Jesus hat für solche Regeln, welche die Menschen nur belasten, viel Kritik. Er sagt: die Pharisäer halten die Vorschriften selbst vielfach nicht ein, sie nutzen sie zum eigenen Vorteil und vieles andere mehr. Sein wichtigstes Urteil findet sich einige Kapitel vorher, wo er die Menschen einlädt, seinem eigenen, so ganz anders gearteten Programm zu folgen. „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“
Eine moderne amerikanische Übersetzung, die Message Bible, konkretisiert die Belastungen der damaligen Menschen und übersetzt, sie sind burned out on religion. Das ist ein modernes Wort, aber im Licht der kleinlichen Pharisäer-Vorschriften, die Jesus kritisiert, erscheint mir die Übertragung in diesen Begriff richtig zu sein.
Ja, man kann tatsächlich religiös burned out sein, und was das heute konkret bedeuten kann, wird an der wachsenden Zahl der Nones in den Vereinigten Staaten deutlich, die in den letzten Jahren zu großen Zahlen, ihre Kirchen „geghostet“ haben, um auch hier ein modernes Wort zu verwenden. Sie sind weder Atheisten noch Agnostiker geworden, bekennen sich zu keiner religiösen Gegenbewegung, sie haben nur aufgehört, sich zu den Gottesdiensten ihrer Kirchen einzufinden. Die New York Times beschäftigte sich jüngst mit ihnen.
Um 10 % ist durch diese stummen Abschiede der Kirchenbesuch in den USA in den letzten zehn Jahren zurückgegangen. Es war eine Entwicklung ohne Auseinandersetzung – man ging einfach nicht mehr hin.
Wenn ich mich sonntags in meiner eigenen Kirche, einer Baptisten-Gemeinde in einer mittelgroßen rheinischen Stadt, umsehe, so erscheinen mir die Vorgänge hier ganz ähnlich zu sein. Auch bei uns sind viele Plätze leer, die noch vor Corona Sonntag für Sonntag gut gefüllt waren. Man hat die Leere zunächst auf die schleppende Rückkehr der Menschen zurückgeführt, die durch Corona für viele Monate am Gottesdienstbesuch gehindert waren. Aber mittlerweile reicht Corona nicht mehr als Erklärung.
Ich sitze manchmal unter den Zuhörern und frage mich, ob nicht bereits die stille Teilnahme an einem Programm, das einem in vielen Stücken keine Freude macht, eine Last darstellt, welche der Steuer der Pharisäer auf Minze und Kümmel entspricht. Es ist eigentlich nichts, gegen das man aufbegehren möchte, die Zeit der großen Kirchen-Reformation ist ja vorbei. Aber es ist etwas in den wenig inspirierten Ritualen, den kaum ansprechenden Liedern und auch in den Predigten, das die Zuhörer wünschen lässt, sie wären jetzt ganz weit weg von dieser Kirche, ganz woanders.
Die Predigten nehmen vielfach keine Rücksicht darauf, dass die Menschen gar nicht belehrt werden wollen. Dass man Paulus an dieser Stelle doch ganz anders (!) verstehen müsse oder dass man dringend (!) andere Verhaltensweisen an den Tag legen müsse, um bestimmte Missstände zu verhindern, das tut letztlich weh und legt den Zuhörern eine Last auf. Wer will das hören?
Wie anders wäre es, wenn tatsächlich Jesus vorne stehen und das wiederholen würde, was er früher gesagt hat „Kommt her zu mir … meine Last ist leicht“. Generationen von Theologen haben diese Worte beständig in Zweifel gezogen, vermutlich ohne es zu wollen, denn Glaube war für sie Anstrengung, Arbeit. Das Reich Gottes war für sie ein großes Betätigungsfeld, in das jeder eingeladen war, der seine Ärmel aufkrempeln konnte.
Aber nun steht Jesus vor uns und sagt „Meine Last ist leicht“. Ich kann mir nicht helfen – ich sehe hier immer das liebenswürdige Gesicht, des ägyptisch-irischen Schauspielers Jonathan Rumie vor mir, der in der neuen Jesus-Verfilmung The Chosen den Jesus spielt. Ja, auch er redet und dringt in die Herzen der Leute ein. Aber wer zu ihm kommt, sieht ein lachendes Gesicht, und bekommt eine Umarmung.
„Ich bin der Weg“ sagt Jesus „und die Wahrheit und das Leben.“ Ich bin die Brücke zum Vater aller Barmherzigkeit. Bei mir wird die Last der Religion leicht.
Montag, 31. Juli 2023
Ein böser Ausrutscher
Der 26. Juli 2023 wird mir vermutlich als einer der dunkelsten Tage in meiner persönlichen Geschichte in Erinnerung bleiben. Ich hatte mit etwas schlechtem Gewissen eingewilligt, mit meinem bei uns für eine Woche in Ferien lebenden Enkel Jakob, 11, in das berühmte Stadion von Borussia Dortmund zu fahren. Es liegt eine halbe Stunde von Remscheid entfernt und fasst über 80.000 Zuschauer. Es ist damit das größte Stadion in Deutschland. Mein schlechtes Gewissen war darin begründet, dass ich meinem Enkel eigentlich etwas anbieten wollte, was er gerne für immer mit dem Besuch bei seinem Großvater verbinden könnte – eine Kirche, ein Museum, eine Bibliothek oder so. Stattdessen nun also den Tempel eines unterhaltsamen, aber gleichzeitig auch sehr geldgierigen und fragwürdigen Kommerzes. Das war nicht so ganz in meinem Sinne, und das hat vielleicht auch dazu geführt, dass ich am Ende in die Probleme geraten bin, von denen ich erzählen will.
Es fing damit an, dass ich auf meinem Navi (Google Maps auf dem Handy) die unmittelbare Adresse des Stadions angegeben hatte, nicht die Adresse der vielen Parkplätze im Bereich des Stadions. Ich hatte vermutet, dass die Besucher während der Woche genügend Parkraum direkt am Stadion vorfinden würden. Später habe ich gesehen, dass das wohl auch stimmte.
Das Navi zeigt mir nun aber keine Straße direkt zum Stadion, sondern einen Seitenweg, der von der vierspurigen Straße, auf der ich mich befand, dem "Krückenweg", abbog und dann geradewegs zum Stadion führte. Zunächst habe ich den Weg gar nicht gefunden, weil er sehr schmal war und nur als Zufahrt zu einer Kleingartenanlage beschildert war. Als ich dann beim zweiten Versuch in diesem Weg einbog, war er zunächst mit Betonpflaster versehen, im weiteren Verlauf dann sauber geschottert und führte an einem Parkplatz vorbei, der für die Kleingartenanlage eingerichtet war. Danach wurde er schmaler und endete nach etwa 200 m an einem rot-weiß lackierten Stab, der den Weg versperrte.Seitlich vom Stab war noch etwas Platz, so dass ich - "dies muss doch ein Weg sein, wenn Google es sagt" - versucht habe, daran vorbei zu fahren. Der entscheidende Fehler war dann wohl, dass ich die Griffigkeit des Schotterbelages überschätzt habe und bei der Korrektur meines sinnlosen Vorhabens beim vorsichtigen Zurücksetzen seitlich abgerutscht bin. Ich kam in der Nähe einer Hecke in einem Graben zum stehen. Von dort war es dann leider nicht mehr möglich, wieder auf dem Weg zu kommen, weil die Räder auf dem losen Schotterbelag durchdrehten. Nach einigem hin und her habe ich den ADAC angerufen und von einer sehr freundlichen Telefonzentrale, den Kontakt zu einem Abschleppdienst bekommen.
Zwischenzeitlich hatte Regen eingesetzt, und ich war beim Versuch, einiges außen am Auto zu verändern, bis auf die Unterwäsche nass geworden. Außerdem war ich ausgerutscht und beim Sturz bis auf den Boden des Grabens gefallen. Die Situation war verzweifelt und erniedrigend – auch weil ich nicht sicher war, ob der Abschleppdienst hier eine Lösung finden würde, was ich dann tatsächlich auch als sehr zweifelhaft erwies.
Nach langem Warten, kam dann auch ein Abschleppwagen, der allerdings Mühe hatte, auf dem Schotterweg bis zu mir durchzukommen. Er blieb etwa 30 m von mir entfernt stehen und versuchte mithilfe einer Seilwinde, die er noch durch mehrere Bänder verlängerte, bis zu meinem Wagen zu kommen.
Das gelang schließlich auch, wobei die Befestigung nur an einem meiner Räder möglich war, und zwar in den Löchern der Felge. Das Anziehen mit der Winde, brachte aber keinen Erfolg, weil sich das Auto nicht bewegte und die Winde mangels ausreichender Kraft stockte.Der freundliche Fahrer, ein Libanese namens Mohammed, hat dann versucht, mit allerlei Unterlagen, darunter zwei etwa 2 m langen Aluminiumrampen, die normalerweise zu dem Abschleppfahrzeug gehörten, meinem Auto wieder einen griffigen Untergrund zu geben.
Als auch dies nicht half, versuchte Mohammed, mit einem Wagenheber die rechte Hälfte des Autos, die tief im Graben hing, soweit anzuheben, dass mehr Gewicht auf der linken Hälfte lag, so dass die linken Vorderräder auf dem ausgelegten Blech besser griffen.
Auch das half nur wenig, und auch die Steine und Bretter, die eine freundliche Nachbarsfrau aus der Kleingartenanlage zur Verfügung stellte, waren keine besondere Hilfe.
Im Nachhinein weiß ich nicht, was am Schluss dazu geholfen hat, das Auto Millimeter um Millimeter nach oben auf den Weg zu bringen. Aber etwa 3 Stunden, nachdem ich in den Graben gerutscht war, stand das Auto wieder auf dem Weg und ich konnte meine Fahrt fortsetzen, nachdem ich meinen treuen Mohammed umarmt und in bar entlohnt hatte.
Bei allem musste mein lieber Enkel Jakob entweder geduldig im Wagen warten oder am Lenkrad des Abschleppfahrzeuges tatkräftig mitwirken, indem er dort die Fußbremse fest hielt. Was er über seinen viel zu wagemutigen Großvater gedacht haben mag, wird er mir vielleicht in der Zukunft einmal verraten Gelernt hat er auf jeden Fall, dass in solchen Situationen eine äußere Ruhe notwendig ist, in der ich mir übrigens mit Mohamed dem Libanesen einig war, wie wir später festgestellt haben, als wir die ganze Sache noch einmal besprochen haben. Er ist mit uns auf Anweisung seines Chefs zu einer Sparkasse gefahren, wo ich einen recht namhaften Geldbetrag aus dem Automaten geholt habe, um die Rechnung des Abschleppdienstes sogleich zu bezahlen.
Auf dem Rückweg sind wir dann in unmittelbarer Nähe des Stadions vorbeigekommen, und Jakob konnte ein paar Bilder machen, die er seinem Freund versprochen hatte, der seinerseits das Stadion von Bayern München für Jakob fotografiert hatte. Insofern war die Fahrt nicht ganz erfolglos.
Mittlerweile steht das Auto bei einem Lackierer, der versuchen wird, zwei kleine Beulen von innen heraus zu drücken und dann Teile der zerkratzten rechten Auto Seite neu zu lackieren. Auch den abgebrochenen Rückspiegel wird er erneuern, die Folgen werden also recht bald beseitigt sein.
Ich bin am Tag darauf erwacht mit dem Gefühl, einer der dümmsten Menschen auf der Welt zu sein, und das nicht zum ersten Mal, denn mein trotziges Bestehen darauf, einmal eingeschlagene Wege auch bis zum Ende zu fahren, das ich von meinem Vater geerbt habe, hat mich auch früher schon öfter in ausweglos scheinende Situationen gebracht.
Dass ich trotz allem die Zuversicht behalten habe, wieder irgendwie aus der Situation heraus zu kommen, hat mich gefreut. Aber so durchnässt ich war, so mutlos war ich zwischendurch auch.
Freitag, 30. Juni 2023
Ein Traum
In meinem Boot saß ein dunkelhaariger Einheimischer, mit dem ich ein Weißbrot teilte, eine Art Baguette, indem ich es in der Mitte zerbrach und die Hälfte an ihn weitergab. Zu meiner Überraschung reichte der Fremde mir von der für ihn abgebrochenen Hälfte wiederum eine Hälfte zurück. Das war überaus freundlich und wirkte auf mich wie die besondere Form eines christlichen Abendmahls.
Ich beschloss, nun meinerseits von dem mir angebotenen Viertel die Hälfte an den Fremden zurückzugeben. Ich tat es und erhielt wenig später erneut die Hälfte meiner Gabe von dem Mann zurück.
Während der ganzen Zeit fuhr das Boot in ruhiger Fahrt einen großen Kreis, so dass ich die Stadt am Hang von verschiedenen Seiten sehen konnte. Es war ein Anblick voller Friede und Ruhe – und die Freundlichkeit des Fremden, der so großzügig und selbstlos mit mir teilte, machte das Ganze perfekt.
Begleitet wurde das alles von einer Stimme, die einen Abschnitt aus dem Propheten Jeremia las. Dieser Abschnitt war mir damals - ich bin mir da immer noch sicher - noch unbekannt, ich habe ihn später nachgeschlagen und dann unzählige Male in meinem Leben gelesen. Für mich ist es eine der schönsten Stellen der Bibel.
Aus Kapitel 31,31-34:
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und ich will ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein. Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Heute kann ich sagen, dass mir die Fremdlinge vom Mittelmeer tatsächlich begegnet sind. Zuletzt in der Form eines Palästinensers, den ich als strengen Moslem kenne und gleichzeitig als einen Menschen, der die Frömmigkeit eines Christen versteht. Er hat als Fremdenführer in seiner Heimat viele christliche Gruppen zwischen Nazareth und Betlehem begleitet und ihnen seine Heimat im historischen Samaria gezeigt.
Nun haben ihn italienische Katholiken, die ganz offenkundig seine Sensibilität für den christlichen Glauben erkannt haben, nach Italien eingeladen, wo er über seine Erfahrungen sprechen soll. Als ich ihm gratulierte, schrieb er zurück
„Please
remember that you were the first christian who showed me good understanding of
my faith and introduced me to your german turk brothers.
Honestly
I learned a lot from you.
Today I
am proud I will stand on the italian stage to talk about my experience.
God
bless you dearest brother “
Samstag, 3. Juni 2023
War Kennedy Berliner?
Wir merken das vielleicht am ehesten bei der Wirkung von Liedern. Sie sprechen uns in Bereichen an, die wir vielleicht etwas zu einfach als „tiefere Ebene“ bezeichnen. Richtig ist aber, dass wir in Liedern bereit sind, Worte zu benutzen, die wir ohne Einbettung in die Musik gar nicht sagen würden. Das ist immer wieder bei religiösen Liedern der Fall, wie etwa bei dem Marienlied, dass ich im Altenberger Dom gehört habe, und dass mich alten, in der Wolle gefärbten Protestanten trotz meines Unverständnisses für Marienverehrung tief ergriffen hat.
Ähnliches ist auch oft in Worten spürbar, die durch ihre besondere Deklamation unser Herz ansprechen.
So hätte bei der berühmten Kennedy Rede – „ich bin ein Berliner“ – wohl niemand daran gedacht, man könne in der Woche darauf Kennedy wegen eines alltäglichen Berliner Problems ansprechen? Die Müllabfuhr streikt, die U-Bahn hat Ausfälle etc. – konnte man damit zu Kennedy gehen? Natürlich nicht!
Aber man hat dem Präsidenten die existenzielle Solidarität mit Berlin gerne geglaubt – auch wenn sie einer kritischen Analyse nicht standgehalten hätte.
Auch große Werke der Weltliteratur lassen sich „historisch-kritisch“ nicht bestätigen. Die Schlacht bei Borodino, so wie in Tolstois "Krieg und Frieden" beschrieben, hat möglicherweise nicht so stattgefunden. Die persönlichen Details in der Familiengeschichte der Buddenbrooks sind zwar in den Geschichten der Familie Mann nachzuverfolgen, eine genaue Untersuchung würde aber herausstellen, dass Dichtung und Wahrheit weit auseinander klaffen..
Ich erlebe den Unterschied zwischen historischer Kritik und liedhafter, rhetorischer Abbildung derzeit besonders deutlich beim Betrachten von „The Chosen“, einer Netflix-Serie, die in 24 Folgen die biblischen Berichte von Jesus nacherzählt. Viele der Szenen sind – ganz ähnlich wie bei Tolstoi und Thomas Mann– frei erfunden und werden auch zu Beginn der Serie als solche angekündigt. Sie sind aber sehr plausibel gestaltet und machen den Gang der Handlung lebendig, viel lebendiger als der Bericht in den Evangelien. Man hat kein Problem, sich diese Szenen anzusehen und zu sagen "so könnte es gewesen sein".
Problematisch dagegen ist eigenartigerweise die Wiedergabe von Szenen, die genau nach der Bibel erzählt werden, die aber ein Wunder enthalten. Am schönsten ist das vielleicht in der Szene zu sehen, in der Jesus bei der Hochzeit zu Kana Wasser in Wein verwandelt. Mit einer ganz langsamen Gebärde reicht er mit der Hand in einen Wasserkrug, und wenn die Hand zurückkommt, tropft kostbarer roter Wein von ihr herab.
Der erstaunliche Effekt auf einen modernen, historisch-kritisch denkenden Menschen ist der, dass man dieses Wunder in die allgemeine Erzählung einbettet und am Ende mit der verblüffendes Erkenntnis herauskommt, dass es eigentlich so gewesen sein muss. Ohne dieses Wunder, und auch ohne die vielen anderen Wunder, die man sieht, macht die ganze Jesusgeschichte wenig Sinn. So denkt man jedenfalls am Ende.
Die Frage ist also, ob die Wunder nicht doch so geschehen sind, wie sie in der Bibel berichtet werden. Natürlich widerspricht das unserem modernen Denken. Aber will ich lieber an den Wundertäter Jesus glauben oder will ich mich auf mein modernes Denken verlassen?
War Kennedy Berliner? Natürlich war er es!
Montag, 29. Mai 2023
Mine eyes have seen the glory of the coming of the Lord
Schon sein Pastorenvater Martin Luther King I war ein vielfach untreuer Ehemann. Das hinderte ihn aber nicht daran, seinem Sohn verschiedene Lustbarkeiten zu verbieten und ihn einmal, da war der Sohn gerade 20 Jahre alt, zu einem Reue-Bekenntnis vor der versammelten Ebenezer Gemeinde in Atlanta zu verdonnern - Martin junior war tanzen gewesen.
Dieser Widerspruch ist eines der Rätsel, die nach dem Lesen der Biografie nicht verschwinden, sondern eher größer werden. Offenkundig ist, dass Martin Luther King II, ein den Menschen in jeder Hinsicht zugewandter Pastor gewesen ist, der sehr schnell die Zuneigung seiner männlichen und weiblichen Gesprächspartner gewinnen konnte. Das hat ihm ganz besonders da geholfen, wo er nicht nur Zuneigung, sondern auch politische Unterstützung und das Mitmarschieren bei den großen Bewegungen, die er angestoßen hatte, benötigte. Die meisten Menschen, die ihm begegneten, waren von seinem offenen Wesen verzaubert.
1968 ist er ermordet worden, gerade 39 Jahre alt. Die Biografie schildert den Berg von Widerständen, den King vor dem jähen Ende seines Lebens in immer stärkerem Maße zu überwinden hatte. Die Frage, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte man ihn nicht auf dem Balkon des Lorraine Motel in Memphis erschossen, wird man nicht beantworten können. Er hatte wichtige Unterstützer verloren – der ihm zunächst zugewandte. Präsident Johnson kehrte sich mehr und mehr von ihm ab. Wichtige Freunde aus der Bürgerrechtsbewegung wurden zunehmend kritisch, besonders was seine Philosophie der Gewaltlosigkeit betraf.
Dass er trotzdem seine visionäre Kraft und die aus der Musik der schwarzen Kirchen gewonnene Redeweise bis zum Ende behielt, kann man bei YouTube sehen. Da spricht er am Abend vor seinem Tod zu den Zuhörern in der pfingstlerischen Church of God in Christ in Memphis und sagt am Ende*
Nun, ich weiß nicht, was jetzt passieren wird. Uns stehen einige schwierige Tage bevor. Aber das macht jetzt nichts, denn ich war schon auf dem Berggipfel. Es macht mir nichts aus. Wie jeder andere möchte ich leben – ein langes Leben; Langlebigkeit hat ihren Platz. Aber darüber mache ich mir jetzt keine Sorgen. Ich möchte einfach nur Gottes Willen tun. Und Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu gehen. Und ich habe hinüber geschaut. Und ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht komme ich nicht mit Euch dorthin. Aber ich möchte, dass ihr heute Abend wisst, dass wir als Volk das Gelobte Land erreichen werden. Deshalb bin ich heute Abend glücklich. Ich mache mir um nichts Sorgen. Ich habe vor keinem Menschen Angst.
Und er schließt seine Rede mit der ersten Zeile der berühmten "Battle Hymn of the Republic"**
Mine eyes have seen the glory of the coming of the Lord.
(Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrns gesehen.)
* Well, I don't know what will happen now. We've got some difficult days ahead. But it really doesn't matter with me now, because I've been to the mountaintop. And I don't mind. Like anybody, I would like to live – a long life; longevity has its place. But I'm not concerned about that now. I just want to do God's will. And He's allowed me to go up to the mountain. And I've looked over. And I've seen the Promised Land. I may not get there with you. But I want you to know tonight, that we, as a people, will get to the Promised Land. So I'm happy, tonight. I'm not worried about anything. I'm not fearing any man. Mine eyes have seen the glory of the coming of the Lord.
** Mine eyes have seen the glory of the coming of the Lord
He is trampling out the vintage where the grapes of wrath are stored
He hath loosed the fateful lightning of his terrible swift sword
His truth is marching on
Glory, glory, hallelujah
Glory, glory, hallelujah
Glory, glory, hallelujah
His truth is marching on