Mein Großvater baute nach dem Krieg sein von Bomben zerstörtes Haus in der Nordstr. 82 wieder auf. Durch Hinzunahme von bis dahin unbebauten Nachbargrundstücken entstand die Häuserzeile 76 – 86, in deren erstes Haus meine Eltern mit mir und meiner Schwester Sigrid im Jahre 1952 einzogen.
Am Giebel des Hauses hatte der Opa einen etwa 6 m hohen guten Hirten aus Eisenbändern anbringen lassen, den ein künstlerisch versierter Schlosser nach den Linien einer Vorlage hergestellt hatte.
Unter diesem freundlichen Symbol habe ich elf Jahre lang im Erdgeschoß des Hauses 76 gewohnt und habe mich so an das Hirtenbild gewöhnt, dass ich es später fast kaum noch beobachtet habe, wenn ich gelegentlich einmal durch die Nordstraße fuhr. Erst neulich habe ich mir den Hirten und sein Schaf einmal länger angesehen und Einzelheiten des Bildes neu wahrgenommen.
Einige Details legen die Vermutung nah, dass es mein Vater war, der die Vorlage gezeichnet hat. Das wäre in den Zeiten knapper Mittel nach dem Krieg auch naheliegend gewesen. Mein Vater arbeitete damals teils als Bauleiter, teils als Architekt im Büro seines Vaters, und wenn der Auftrag für Hirte und Schaf nicht an den feinsinnigen Herrn Heinrich Hadem ging, der später die Weihnachtskarten der Firma kalligraphisch gestaltete und irgendwann auch einmal von der Industrie- und Handelskammer den ehrenhaften Auftrag erhielt, in deren Gebäude ein großes Flurfenster zu gestalten, wenn der es also nicht war, dann kann eigentlich nur mein Vater mit seinem nicht unbeträchtlichen Zeichentalent als Vorlagengeber in Frage kommen.
Die klobigen Schuhe des Hirten erinnern mich an die Hufe eines kleinen Esels, den mein Vater mir als Schulanfänger ebenfalls als Vorlage auf eine Schiefertafel malte, was mich damals aus verschiedenen Gründen sehr in Verlegenheit brachte. Auch die linke, den Stab haltende Hand ist grob, der Kopf des Hirten dagegen ist eher zu klein geraten, ihm fehlt auch der Heiligenschein, den solche Figuren sonst immer haben, und den ich mir, wie ich jetzt bemerkte, fast schon ein wenig dazu erinnert hatte. Natürlich war mein Großvater viel zu calvinistisch, um Heiligenscheine auch nur zu denken, geschweige denn, in Auftrag zu geben.
Am meisten wundert mich das Schaf. Es ist vollkommen anders als alle Schafsdarstellungen, die ich kenne. Es versucht nämlich, seinen Kopf in einer anrührenden Geste so zu heben, dass es in die segnende warme Hand des Hirten hineingerät, macht dabei aber eine Bewegung, die man bei Schafen nie sehen würde. Es ist eher die Bewegung eines Hundes, der am Kopf gestreichelt oder gekrault werden will, und der außerdem voller Stolz seine Brust herausstreckt.
Trotz dieses eigenartigen Fehlers finde ich das Bild insgesamt gelungen. Schließlich ist das Schaf ja gar kein Schaf, es ist ein Mensch, ein Anhänger des guten Hirtens – und als Mensch ist es ja nicht verboten, auch einmal eine Bewegung zu machen, die mehr Gefühl und mehr Wissen verrät als die natürliche Art und Weise wie ein gewöhnlicher Schafskopf sich auf seinen Hirten zubewegt.
1 Kommentar:
Die kynologische Geste des Schafes scheint mir gut beobachtet. Allerdings mißtraut der Hund der ausgetreckten Hand des Menschen immer. Sein instinktives leichtes Sichwegducken meine ich wahrzunehmen. Wie das nun wieder theologisch zu deuten wäre, weiß ich nicht zu sagen. Immerhin: Die Furcht des Herrn.
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