Zu den schönsten Worten, die man beim Lesen der Erzählungen
der Chassidim (Martin Buber, 1949) lernt, gehört das Wort Schechina.
Es bezeichnet „die der Welt einwohnende
Gegenwart Gottes“, sein Erscheinen unter den Menschen, Sein Sich-Niederlassen.
Das Wort aus Psalm 139 (Vers 9)
Nähme ich die Flügel der Morgenröte und ließe mich am äußersten Meer nieder, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich ergreifen.
Nähme ich die Flügel der Morgenröte und ließe mich am äußersten Meer nieder, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich ergreifen.
enthält im hebräischen Urtext das Verb schachan und beschreibt diesen Vorgang des Sich-Niederlassens. Sanft wie auf den Schwingen eines Vogels erscheint die Gegenwart Gottes über den Menschen und setzt sich zu Ihnen.
Buber beschreibt, wie die Sehnsucht der frommen Chassiden sich immer wieder zentral auf das beglückende Erlebnis der Gottesgegenwart ausrichtet. Man tanzt, bis man in Verzückung gerät, man singt, man betet – und erfährt doch immer wieder schmerzhaft, dass sich die Schechina entzieht. Wir leben im Exil, auch in Bezug auf die Gegenwart Gottes.
Einmal erscheint sie einem Chassiden im Schmutz und Gestank der Gerbergasse* „ein überstarkes Licht in vierundzwanzig farbigen Stufen“. Er war vor dem Gestank ins leere Bethaus geflohen, nur um dort zu erfahren, dass die Schechina gesenkten Hauptes an dem üblen Ort stehe, dem er entkommen wollte.
Man wird beim Lesen des neuen Buches über die Briefe an die Thessalonicher (In der Gegenwart des Herrn, Paulus neu gelesen) des Jesuitenprofessors Norbert Baumert an vielen Stellen an diese Art der Gotteserscheinung erinnert. Baumert macht sich große Mühe, den Nachweis darüber zu führen, dass man ein besonderes Wort neu und anders lesen muss als bisher: das Wort parousia.
Auch dieses Wort bezeichnet laut meinem altgriechischen Lexikon "Gegenwart" und "Anwesenheit". Erst im biblischen Zusammenhang ist die für die Zukunft zu erwartende "Wiederkunft" (Jesu) daraus geworden.
Baumert nimmt diese Entwicklung zurück und interpretiert parousia
immer wieder als die geistgewirkte, charismatische und aktuelle Erfahrung der Gegenwart
Gottes in der Gemeinde.
Auf diese Art und Weise beseitigt er auf überraschender
Weise ein die gesamte moderne Interpretationsliteratur durchziehendes Problem, nämlich die
sich sehr bald als falsch erweisende „Naherwartung“ des Paulus und seine
Bemühungen um eine Erklärung für den zeitlichen Aufschub der Wiederkunft. Baumert legt
nahe, dass von dieser baldigen Wiederkunft nirgendwo bei Paulus die Rede ist.
Paulus meint bei parousia die Gegenwart, nicht die Zukunft.
Wenn man seiner Interpretation folgt, werden die Texte auf
eigenartige Weise logisch und auch sehr menschlich. Paulus
schreibt nicht von den letzten Dingen, sondern von geistigen Prozessen
innerhalb der Gemeinden, an die er sich per Brief wendet. Die Anwesenheit (auch
hier: parousia) eines einzelnen Irrlehrers in Thessalonich soll sich recht bald
durch die Anwesenheit des Geistes Gottes als in ihrer falschen Lehre als widerlegt erweisen.
Gott kommt im Hier und Jetzt, lässt sich in seiner Gemeinde
erfahren und leitet die Gläubigen auf einem von Gottes Gegenwart erleuchteten,
aufgeklärten Weg.
Ist das Schechina? Ich meine: Ja. Das Wort gibt es übrigens auch im sprachlich dem Hebräischen verwandten Arabischen, es kommt auch im Koran in ähnlicher Bedeutung vor.
Mir hat ein frommer muslimischer Freund einmal die Gegenwart Gottes in meinem Leben gewünscht. Ich habe mich darüber gefreut und gebe diesen Wunsch heute, an Pfingsten, an alle meine Leser weiter.
Frohe
Pfingsten!
* In der Gerbergasse
Auf einer Wanderung kam Rabbi Levi Jizchak gegen nachts in eine kleine Stadt, wo er niemand kannte. Er fand keine Unterkunft, bis ein Gerber ihn mit sich nach Hause nahm. Er wollte das Abendgebet sprechen; aber der Gerbergeruch war so durchdringend, dass er kein Wort über die Lippen brachte. Er machte sich auf und ging in das Lehrhaus, in dem kein Mensch mehr war. Hier betete er. Und als er betete, verstand er mit einem Mal, wie die Schechina, die der Welt einwohnende Gegenwart Gottes, ins Exil herabgesunken ist und wie sie gesenkten Hauptes in der Gerbergasse steht. Er brach in Tränen aus und weinte in einem fort, bis sich sein Herz über den Gram der Schechina ausgeweint hatte und er in Ohnmacht fiel. Da erschien ihm die Schechina in ihrer Glorie, ein überstarkes Licht in vierundzwanzig farbigen Stufen, und sprach zu ihm: "Sei stark, mein Sohn! Große Nöte werden über dich kommen, aber fürchte dich nicht; denn ich werde bei dir sein."
Auf einer Wanderung kam Rabbi Levi Jizchak gegen nachts in eine kleine Stadt, wo er niemand kannte. Er fand keine Unterkunft, bis ein Gerber ihn mit sich nach Hause nahm. Er wollte das Abendgebet sprechen; aber der Gerbergeruch war so durchdringend, dass er kein Wort über die Lippen brachte. Er machte sich auf und ging in das Lehrhaus, in dem kein Mensch mehr war. Hier betete er. Und als er betete, verstand er mit einem Mal, wie die Schechina, die der Welt einwohnende Gegenwart Gottes, ins Exil herabgesunken ist und wie sie gesenkten Hauptes in der Gerbergasse steht. Er brach in Tränen aus und weinte in einem fort, bis sich sein Herz über den Gram der Schechina ausgeweint hatte und er in Ohnmacht fiel. Da erschien ihm die Schechina in ihrer Glorie, ein überstarkes Licht in vierundzwanzig farbigen Stufen, und sprach zu ihm: "Sei stark, mein Sohn! Große Nöte werden über dich kommen, aber fürchte dich nicht; denn ich werde bei dir sein."
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