Freitag, 29. Juli 2016

Erdoğan und Gülen – der Tag der Trennung, 2. Juni 2010


Mavi Marmara
Die folgenden Gedanken habe ich vor einigen Monaten in der türkischen Zeitung "Zaman" gelesen, als diese noch nicht verboten war. Ich glaube, dass sie richtig sind. Sie haben mich an viele Einzelheiten einer Zeit erinnert, die ich sehr intensiv durchlebt habe, die Zeit der beiden Gazakriege 2008 und 2014 und die Veränderungen in der Türkei im gleichen Zeitraum.


Eine bedeutende Veränderung begann, nachdem am 22. Mai 2010 eine Gruppe von sechs Schiffen, darunter die „Mavi Marmara“ von Istanbul aus in Richtung Gaza aufgebrochen war, um Hilfsgüter dorthin zu bringen. Ziel war es, die von Erdoğan als Blockade bezeichnete Grenzkontrolle Gazas zu durchbrechen und die Hilfsgüter gegen den Willen der die Kontrolle ausübenden Israelis und Ägypter an Land zu bringen. Bekanntlich endete die Aktion in einer israelischen Erstürmung der Schiffe am 31. Mai 2010, ein militärischer Einsatz, bei dem es Tote und Verletzte gab und für den sich Israel später entschuldigen musste. Die israelische Militäraktion war offenkundig schlecht vorbereitet. Man hatte nicht mit gewaltsamem Widerstand gerechnet.

Was ich damals bemerkenswert fand, was in den deutschen Zeitungen aber kaum wahrgenommen wurde, war ein Interview mit Fethullah Gülen zwei Tage nach den Ereignissen. Er hatte zuvor in den USA keine Interviews gegeben, und es war von daher sehr bemerkenswert, dass das "Wall Street Journal" am 2. Juni 2010 zu ihm durchgelassen wurde und mit ihm reden durfte.

Dieses Datun wude laut "Zaman" zum Tag der Trennung zwischen den bis dahin politisch einander nahen Männern Gülen und Erdoğan. Gülen sagt in dem Interview - zum Staunen der Türken, ja teilweise sogar zum Entsetzen seiner eigenen Anhänger - man hätte Israel um Erlaubnis fragen müssen.

Das hat kaum jemand in der Türkei richtig verstanden, auch seine Anhänger nicht. Vielleicht ist es ihnen als eine Form von übersteigertem Pazifismus erschienen. Die Kommentare selbst in der Gülen-nahen „Zaman“ klangen jedenfalls alle so, als ob die Redakteure sie mit zusammengebissenen Zähnen geschrieben hätten. Damals waren selbst die Gülen-nahen Türken noch auf eine mächtige, außenpolitisch bedeutsame Türkei eingeschworen. Die Aktion "Mavi Marmara" erschien vielen als nationale Heldentat. Gülen dagegen hatte mit wenigen Worten solcherlei aggressives Türkentum in die Schranken gewiesen.

Bei näherem Hinsehen war damals schon klar, dass Gülen in der Sache Recht hatte. Man hätte die Hilfsgüter tatsächlich allesamt auf dem Landweg nach Gaza bringen können. Es gab und gibt einen regen Güteraustausch zwischen Israel und Gaza, man muss allerdings Listen beachten, auf denen Güter stehen, die für Gaza verboten sind – etwa Beton, mit dem man Abschussrampen für Kassam-Raketen bauen könnte.

Es war damals ebenfalls klar, dass die lautstarke Erdoğan-Propaganda, man wolle Gaza „von der Blockade befreien“, in zweifacher Hinsicht falsch war. Erstens war das Wort von der Blockade falsch, da viele Güter wie gesagt tatsächlich eingeführt werden konnten, Elektrizität und Wasser etwa bezieht Gaza auch heute noch aus Israel.

Zweitens war der Wille Erdoğans, etwas Entscheidendes in diesem Gebiet der Welt zu tun, offenbar nur vorgespielt. Er ließ sich in der arabischen Welt für die Gaza Flotilla feiern, es kursierten sogar eine Zeit lang Gerüchte, er würde höchstpersönlich an Bord einer zweiten Flotte gehen und sie begleiten. Im Ergebnis verschaffte ihm das eine gute Presse im arabischen Raum, seine Anstrengungen für Gaza und Palästina wirkten aber eher halbherzig.

Der Artikel in Zaman, den ich leider nicht finden kann, weil Zaman nicht mehr im Internet ist, hat den weiteren Weg des Zerwürfnisses zwischen Erdoğan und Gülen dann so beschrieben, dass Erdoğan zunächst den Krieg mit Gülen begonnen habe, indem er die Nachhilfeschulen der Hizmet (Dienst)-Bewegung Gülens, die Dershanes schließen ließ. 

Das wiederum hat dann - so meine Theorie - eine Reaktion von verschiedenen Hizmet-Leuten provoziert, die im Bereich der Staatsanwaltschaft tätig waren und die eine Vielzahl von Korruptionsfällen im engeren Kreis um Erdoğan aufgedeckt hatten. Sie haben am 17. Dezember 2013 mit einer großen Verhaftungsaktion zugeschlagen, die Erdoğan aber sogleich konterkariert hat, indem er mehr als 5.000 Staatsanwälte und Polizisten ihres Postens enthob oder versetzte. Die Verdachtsfälle wurden nicht weiter verfolgt und nie aufgeklärt.

In den Monaten danach hat Erdoğan immer mehr Unternehmen, die Gülens Hizmet-Bewegung nahe standen in Bedrängnis gebracht und teilweise dazu gezwungen, ihre Operationen einzustellen. Prominentestes Opfer war die Bank Asya, die zur Aufgabe ihrer Geschäfte gezwungen wurde. Schon vor dem Putsch saßen große, bekannte Unternehmer, die der Hizmet-Bewegung zugerechnet wurden, im Gefängnis. Nach dem Putsch ist die Zahl dann weiter gestiegen.

Aus einer zunächst guten strategischen Partnerschaft zwischen Erdoğan und Gülen wurde Gegnerschaft und jetzt, nach dem Putsch, für den Erdoğan alleine Gülen verantwortlich macht, eine für die Menschen der Hizmet-Bewegung lebensbedrohliche Feindschaft Erdoğans.

Es ist bemerkenswert, dass die Trennung der beiden Männer am 2. Juni 2010 mit wenigen Worten markiert wurde. Aber es sollte nicht vergessen werden, dass damals Gülen die Wahrheit gesagt und Erdoğan gelogen hat.

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