Donnerstag, 21. Juli 2016

Meine Türkei

Eine Liebeserklärung

Heute auf den Tag genau vor 45 Jahren bin ich in Istanbul angekommen, unterwegs zu einem zweimonatigen Bankpraktikum, das ich ein bisschen unwillig angetreten bin, nachdem ich mich vorher für ein Praktikum in den Vereinigten Staaten beworben hatte. Ich wurde aber von der die Praktika vergebenden Studentenorganisation AIESEC nicht für die USA angenommen, sondern auf die Türkei verwiesen.


Ich hatte die komplette, etwa 3.500 km lange Strecke über Wien, Budapest und Saloniki in einem alten VW aus dem Jahre 1957 zurückgelegt und hatte also auch für meine Fahrten zur Arbeit in Istanbul ein Auto zur Verfügung. Mit dem fuhr ich morgens von Şişli / Nişantaşı (Orhan-Pamuk-Land, an seinem Haus in der Vali Konağı Caddesi bin ich oft vorbeigefahren, natürlich ohne von Pamuk zu wissen) in die Altstadt zwischen Blauer Moschee und Großen Basar. Hier hatte die Etibank eine Filiale und war weit und breit am besten mit dem Einlösen von Reiseschecks vertraut. "Do you cash travelers checks?" fragten mich die deutschen Touristen und lobten mein hervorragendes Deutsch, wenn ich ihnen in ihrer Sprache antwortete.
Mein Volkswagen von 1957

Die Arbeitsstelle war ein angenehmer Ort, vor allen Dingen, weil ich wirklich Arbeit hatte. Die anderen Studenten, etwa 40 an der Zahl, aus vielen Teilen der Welt, waren oft nur von großen internationalen Firmen eingestellt worden, damit diese eine gute Tat vorweisen konnten. Echte Arbeit gab es dort für die des Türkischen nicht mächtigen Studenten kaum.

Zu meinem Glück meldet sich außerdem noch nach wenigen Tagen Selim Bilmen, ein im Obergeschoss der Bank arbeitender Journalist, dem ich Deutschunterricht geben sollte. Er war ein äußerst feiner Mensch, der mich nicht nur fürstlich entlohnte, sondern auch mit zu sich nach Hause nahm, wo ich das türkische Familienleben und die wunderbare türkische Küche kennen lernte. Da er in seinem klugen Kopf für alles Raum hatte, nur nicht für Sprachen, musste, ich ihm meine Lektionen beständig wiederholen und alle Worte auch immer wieder übersetzen. So lernte ich in diesen Wochen sicherlich mehr Türkisch als er Deutsch.

Höhepunkt meiner Zeit war eine 14-tägige Study Tour, die unsere Studentengruppe quer durch Anatolien bis fast an die syrische Grenze führte. Zum Schluss ging es von Antalya aus mit einem schönen Schiff zurück nach Istanbul.

Der Militärputsch vom 15. Juli 2016 hat mich daran erinnert, dass ich 1971 ebenfalls in die Zeit nach einem Putsch (vom 12. März 1971) gekommen bin. Ich gestehe, dass ich die von diesem Putsch offenbar gereinigte Luft in Istanbul genossen habe. Die unfähigen und korrupten Polizisten der alten Ordnung, die immer noch müde ihren Dienst taten, wurden jetzt von frischen Soldaten unterstützt und mehr und mehr ersetzt, die immer zu zweit mit strengen Gesichtern durch die Stadt patrouillierten. Sie müssen dabei selbst aber sicherlich ängstlich besorgt gewesen sein, ihre bäuerlich-anatolische Herkunft und ihre fehlende Ausbildung zum Polizisten nicht allzu deutlich zu zeigen.

Selim Bilmen, mein Privatschüler
in der deutschen Sprache (2. v.links)
Die Türken, die ich kennen lernte, schienen alle Anhänger von Atatürk zu sein, und das Militär war es nach eigenem Bekunden auch, so dass niemand wirklich unzufrieden mit der Besetzung durch Soldaten war.

Fromme Leute habe ich nicht getroffen, vielleicht mit der einzigen Ausnahme des alten Bürobediensteten Mustafa (in meiner Erinnerung mit braunem Kaftan und gehäkelter Mütze), den ich einmal in einer Seitenkammer der Bank beim Beten antraf. Fast wäre ich über den am Boden knienden Mann gefallen. Er hatte in der Bank die Aufgabe eines Faktotums, stand in einer Ecke des Großraumbüros in Bereitschaft und wartete darauf, dass die jungen Sekretärinnen ihn mit einer herrischen Handbewegung zu sich riefen. Er ging dann zu ihnen, nahm ein Schriftstück entgegen, um es manchmal nur zwei Tische weiter zu einer Kollegin zu befördern. Solche niedrigen Arbeiten brauchten die hübschen Mädchen, die in einem etwas effektierten Französisch-Türkisch "Çok merci" und "Efendim" mit langen, nach Ä klingenden E-s ins Telefon sagten, nicht selbst auszuführen. In eine von ihnen, die schwarze Emel aus Mersin, war ich ein bisschen verliebt und habe noch Monate nach meinem Aufenthalt einen langen Briefwechsel mit ihr geführt.

Schön war auch die Zeit mit den Studenten, die zentral in einem im Sommer leer stehenden Studentenwohnheim untergebracht waren. Zu einigen der Leute habe ich einen lebenslangen Kontakt aufrecht erhalten, ebenso wie zu Bülent, dem Leiter der türkischen AIESEC-Organisation, der für die Study Tour verantwortlich war und seine Ansagen im Bus immer mit einem Respekt gebietenden "I have to make an announcement" einleitete.

Çay evi in der Kodaman Sokak
Die wichtigste Fähigkeit, die ich von Istanbul mitgebracht habe, ist die Kenntnis des Backgammon-Spiels, das in der Türkei Tavla heisst. Es wird dort nach den gleichen internationalen Regeln gespielt wie Backgammon. Es war ein preiswertes Vergnügen, abends in das nahe gelegene Çay evi, das Teehaus in unserer Kodaman Straße zu gehen, sich für 20 Pfennig einen Tee zu bestellen und dann zu spielen. Der Höhepunkt meiner Besuche war, dass ich am Ende einen alt-erfahrenen Taxifahrer zu einem Spiel herausfordern durfte und das Spiel dann unter dem Jubel der gesamten Gesellschaft sogar knapp 5 : 4 gewann.

Ich habe die damalige Türkei sicherlich als sehr unordentlich empfunden. Das lag unter anderem auch an dem täglichen Kampf durch den Autoverkehr, bei dem sich niemand an Regeln hielt. Später habe ich die Türkei mehrfach wiederbesucht und habe spätestens um das Jahr 2010 herum eine vollkommen andere, sehr viel modernere und organisiertere Türkei kennengelernt. Die Infrastruktur – Straßen, Verkehrsregelungen, Wasserversorgung, öffentlicher Personenverkehr – war um viele Klassen besser als 1971, und das, obwohl die Stadt von damals vielleicht 2 Millionen auf heute annähernd 20 Millionen Einwohner gewachsen ist.

Ich muss deshalb keinem Türken lange erklären, warum ich die Aufbauarbeiten der letzten Jahrzehnte mit großer Hochachtung sehe und dies auch mit der Person und der Partei des Präsidenten Erdoğan verbinde. Ich habe zwar immer meinen deutschen Türken gegenüber die Kritik geäußert, er habe "eine zu große Klappe", aber erst als er in einem vollkommen sinnlosen Angriff eine "Flotilla" von Schiffen in Richtung Gaza losschickte, habe ich begonnen, ihn für das anzusehen, als was er sich heute offenbart: einen machtgierigen Autokraten.

Eigenartigerweise ist gerade diese Flotten-Geschichte von 2010 (unter dem Stichwort "Mavi Marmara", dem Namen des größten Bootes der Flotte) der Punkt gewesen, an dem sich die Wege von Erdoğan und Fethullah Gülen getrennt haben. Gülen hat wenige Tage nach der gescheiterten Mavi-Marmara-Aktion seine Zurückhaltung der Presse gegenüber aufgehoben und hat der Financial Times ein Interview gegeben, in dem er sagte, man hätte die Israelis um Genehmigung fragen sollen. Das war natürlich das genau Gegenteil von dem, was Erdoğan wollte, und es hat auch im Lager der Gülenanhänger einiges ungläubige Kopfschütteln darüber gegeben. Die Aussage war aber vollkommen richtig: die auf den Schiffen mitgeführten Güter wären alle auch auf dem Landweg in Gaza angekommen. Sie hätten lediglich eine israelische Kontrolle passieren müssen.

Erdoğan hat sich später gegenüber Gülen revanchiert und hat die Nachhilfeorganisationen der Gülen-Bewegung schließen lassen. Damit hat er eine wichtige Lebensader getroffen, und die Gülen-Bewegung hat – möglicherweise – ihren Einfluss unter Polizeioffizieren und Staatsanwälten geltend gemacht, um Erdoğan und den engeren Kreis um ihn herum Korruption nachzuweisen. Das wiederum hat zu einer sofortigen Versetzung von 5.000 Staatsanwälten geführt und im weiteren Verlauf zu neuerlichen Repressionen gegenüber den Gülen-Leuten, die heute, nach dem gescheiterten Putsch ganz offiziell als Terroristen bezeichnet werden.

Eigenartigerweise trifft mich das auch, denn ich habe mich aus Freundschaft zu einigen deutschen Gülen-Anhängern verpflichtet, der örtlichen Gülen-Organisation einen kleinen monatlichen Beitrag zu spenden. Ich bin quasi Mitglied dieser Organisation und würde es derzeit nicht für ratsam halten, in die Türkei zu reisen.
Etibank auf der Divan Yolu Caddesi, 1971
Aber ich liebe dieses Land und ich liebe seine Bürger, denen Atatürk in einem seiner Kernworte zu rufen hat: Türke sei stolz, arbeite und vertraue! Ich bin stolz darauf, vieles in diesem Land verstanden zu haben und die Freundschaft vieler seiner Bewohner gewonnen zu haben. Und dass ich jetzt also Terrorist bin – darauf bin ich auch stolz.

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