Fethullah Gülen schreibt in Le Monde am
17. Dezember 2015, einen Monat nach den Anschlägen in Paris das Folgende:
Es fällt mir schwer, meine Betrübnis über die Gräueltaten des IS und ähnlicher Terrorgruppen in Worte zu fassen. Dass solche Gruppen bei der Ausübung von Terroranschlägen ihre perversen Ideologien in religiöse Gewänder verhüllen, stürzt mich, wie die übrigen 1,5 Milliarden Muslime der Welt auch, in tiefe Trauer. Als muslimische Gemeinschaft ist es einerseits unsere Aufgabe, Schulter an Schulter mit allen anderen, die Menschheit vom Übel des Terrorismus zu befreien und andererseits zu versuchen, das Antlitz unserer Religion von diesem dreckigen Teer zu säubern.
Es ist ein Leichtes, mit Hilfe von Begriffen und Symbolen abstrakt eine bestimmte Identität für sich in Anspruch zu nehmen. Ob entsprechende Behauptungen aufrichtig gemeint sind, lässt sich aber nur daran messen, wie sehr die Grundwerte der propagierten Identität in der Praxis gelebt werden. Der tatsächliche Glaube (Imän) zeigt sich weder in Slogans noch durch äußere Merkmale wie Kleidung, sondern darin, wie sehr man bemüht ist, Menschenleben zu schützen und alle Menschen hochzuachten — Prinzipien, die allen Weltreligionen zugrunde liegen.
Als Muslime müssen wir die totalitäre Ideologie, die die Terroristen zu verbreiten suchen, ohne Wenn und Aber ablehnen und stattdessen eine pluralistische Denkweise fördern, die in der Vielfalt eine Bereicherung sieht. Noch vor unserer ethnischen, nationalen, auch religiösen Identität steht unsere Humanität; und den tatsächlichen Schaden von solch barbarischen Aktionen trägt die moralische und spirituelle Persönlichkeit der Menschheit davon. Die französischen Bürger, die in Paris ihr Leben verloren haben, ebenso die schiitisch-muslimischen Libanesen, die einen Tag davor in Beirut starben, sowie die sunnitisch-muslimischen Bürger, die im Irak durch die gleichen Terroristen getötet wurden, sind in erster Linie Menschen. Solange wir jedem leidenden Menschen - völlig unabhängig von seiner religiösen oder ethnischen Identität - nicht das gleiche Mitgefühl entgegenbringen und nicht mit der gleichen Entschlossenheit versuchen, sein Leid zu stillen, wird unsere Zivilisation nicht in der Lage sein, sich weiter zu entwickeln.
Weg von Verschwörungstheorien, hin zu Selbstkritik
Als Muslime müssen wir uns von Verschwörungstheorien, die
uns von unseren eigenen Problemen ablenken, lösen und uns kritisch
hinterfragen: Sind vielleicht heimliche Sympathien zur Autokratie und zu
körperlicher Gewalt, die Vernachlässigung der Jugend und das Fehlen einer
ausgewogenen Bildungsarbeit (muslimischer Verbände und Vereine) schuld daran,
dass unsere Gemeinden und ihre Mitglieder empfänglich geworden sind für das
radikale und totalitäre Gedankengut und die Rekrutierungsversuche
extremistischer Gruppierungen? Hat unser Versagen bei der Verankerung
grundlegender Menschenrechte und Freiheiten, rechtsstaatlicher Strukturen und
pluralistischer Denkweisen Menschen, die auf der Suche nach Antworten sind, in
eine ver-zweifelte Lage gebracht und dafür gesorgt, dass sie sich von uns
abwenden?
Den Terror verdammen reicht nicht
Die Tragödie von Paris erinnert uns erneut daran, dass diese
abscheulichen Taten, die religiös begründet werden, sowohl von unseren
religiösen Gelehrten, als auch von den gewöhnlichen Muslimen rundheraus
abgelehnt und verdammt werden müssen. Allerdings reicht in der derzeitigen Lage
nicht einmal ein Ablehnen und Verdammen mehr aus. Die Rekrutierung von
Jugendlichen in den muslimischen Gemeinschaften seitens radikaler Kräfte muss
durch eine effiziente Kooperation von staatlichen Institutionen, religiösen
Autoritäten und zivilgesellschaftlichen Akteuren verhindert werden. Dabei gilt
es, Projekte zu entwickeln, die alle Aspekte berücksichtigen, die den Nährboden
für die Rekrutierung durch Terroristen bilden und die die ganze Gesellschaft
mit einbeziehen.Wir müssen präventive Maßnahmen treffen und die nötige
Infrastruktur schaffen, damit wir gefährdete Jugendliche in unseren Reihen
frühzeitig erkennen und daran hindern können, sich auf die Suche nach
gefährlichen Abenteuern zu begeben; vor allem, indem wir ihre Familien beraten
und anderweitig unterstützen. Außerdem sollten wir in den Staaten, deren
Staatsbürger wir sind, durch ein positives Engagement als aktive Bürger mit am
Tisch sitzen und unsere Meinung einbringen können, wenn Maßnahmen zur
Terrorismusbekämpfung geplant werden. Wir müssen unseren Jugendlichen
beibringen, ihre Meinungen auf demokratischem Wege zu äußern. Die frühzeitige
Vermittlung demokratischer Werte an Schulen ist für die Entwicklung einer
demokratischen Kultur und einer gesunden Geisteshaltung bei jungen Menschen
sehr wichtig.
Mahnende Beispiele aus der Geschichte
Auch in der Geschichte waren nach vergleichbaren Tragödien
extreme Reaktionen zu verzeichnen. Islamfeindlichkeit und anti-religiöse
Äußerungen sowie ein staatliches Handeln, das Muslime nur als Sicherheitsrisiko
bewertet, können eher Schaden als Nutzen hervorbringen. Die Muslime in Europa
wünschen sich ein Leben in Frieden und Ruhe. Trotz der negativen Stimmung
sollten sie sich mehr ein-bringen und zu einer offenen und pluralistischen
Politik beitragen, die die Integration der Individuen ihrer
Glaubensgemeinschaft verbessert.Als Muslime müssen wir unser Islamverständnis
und unsere Praktiken im Lichte der gegenwärtigen Gegebenheiten und einer
zeitgemäßen Auslegung überdenken und dazu in der Lage sein, Selbstkritik zu
üben. Dies bedeutet keinesfalls eine Abkehr von der islamischen Tradition,
sondern vielmehr ein bedachtes Hinterfragen, um mögliche Abweichungen bemerken
und korrigieren und den Geist und die Essenz des Korans und der Sunna (der
Tradition des Propheten) wiederbeleben zu können, nach der auch die
aufrichtigen muslimischen Gläubigen vor uns stets strebten.
Radikale religiöse Auslegungen zurückweisen
Wir müssen etwas dagegen tun, dass unsere religiösen Quellen
aus dem Zusammenhang gerissen und für andere Zwecke instrumentalisiert werden.
Die muslimischen Gelehrten, Ideengeber und Intellektuellen müssen unter den
Menschen ein Verständnis fördern, dass man religiöse Quellen in ihrer
Gesamtheit betrachten sollte. Wir sollten Vorschriften aus vergangenen Zeiten,
in denen sich Angehörige verschiedener politischer und religiöser Richtungen
bekämpften und deren Widerstreit lange anhielt, neu bewerten können. Der Glaube
an bestimmte Grund-sätze ist kein Dogmatismus. Es ist möglich und auch
unerlässlich, der Meinungsfreiheit, die den Muslimen in der Vergangenheit schon
einmal eine Art Renaissance bescherte, neues Leben einzuhauchen; auch ohne dass
im Zuge dessen grundlegende religiöse Werte missachtet werden. Nur in einem
solchen Klima kann man Radikalismus und Terrorismus, die Gewalt befeuern,
wirksam bekämpfen.
Kein Kampf der Kulturen
Leider beobachte ich mit großem Bedauern, dass nach den
aktuellen Ereignissen in einigen Kreisen erneut die These vom Kampf der
Kulturen Erwähnung findet. Ob die Ersten, die diese These in den Raum warfen,
eine fundierte Prognose abliefern wollten, oder es als ein (allgemeingültiges)
Erklärungsmuster verstanden haben, kann ich nicht beurteilen. Aber eines ist
klar: nämlich dass solch eine Rhetorik lediglich den Terrororganisationen
zugute kommt. Daher möchte ich klar und deutlich betonen: Womit wir es hier zu
tun haben, ist kein Kampf der Kulturen, sondern ein Kampf zwischen menschlicher
Zivilisation und Barbarei.
Muslime müssen Teil der Lösung sein
Als muslimische Bürger stehen wir in der Verantwortung, auch
wenn wir schwierigen Umständen ausgesetzt sind, Teil der Lösung zu sein. Wenn
wir unseren Anteil dazu beitragen wollen, das Leben und die bürgerlichen
Freiheiten der Musli-me auf der ganzen Welt sowie auch Ruhe und Frieden eines
jeden Menschen unabhängig von seinem Glauben zu verteidigen, dann müssen wir
jetzt handeln und uns mit dem Problem des Terrors und des gewalttätigen Extremismus
in allen seinen politischen, ökonomischen, sozialen und religiösen Dimensionen
auseinandersetzen. Indem wir in unserem individuellen Leben danach streben, ein
tugendhafter Mensch zu sein, durch die Diskreditierung und Marginalisierung von
extremistischen Interpretationen religiöser Quellen, durch Wachsamkeit
gegenüber ihrem Einfluss auf unsere Jugend und durch die Vermittlung
demokratischer Werte schon in der Früherziehung mit gutem Beispiel vorangehend,
können wir Gewalt und Terrorismus ebenso stoppen wie totalitäre Ideologien, die
ihnen den Weg ebnen.
*Originaltitel:
"Musulmans, procédons à un examen critique de notre compréhension de la
foi"
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