Rede zu ihrem 60. Geburtstag
Liebe Esther, liebe Geburtstagsgäste,
ich möchte gerne etwas zum Verständnis meiner Schwester
Esther beitragen, indem ich etwas (eher Theoretisches) aus dem Lebensumfeld
berichte, in dem sie sich bewegt. Es ist das Feld der Enthusiasten. Diesen
Begriff hat die amerikanische Psychologin Kay Jamison für eine bestimmte
Lebensweise geprägt, über die vor einigen Jahren im Spiegel ein Interview unter
dem Titel "Champagner der Gefühle" erschein. Sie erzählte darin vom faszinierenden
Leben dieser Typen, die optimistisch und zupackend sind und immer ein wenig
extrovertiert.
Die Enthusiasten stehen im Zentrum von Jamisons Untersuchungen, nachdem sie festgestellt hatte, dass es zu deren heller, dem Leben zugewandten Seite auch eine dunkle Seite gibt. In gewisser Weise erklärt die eine Seite die andere.
Esther in ihrer Kabarett- Rolle als Frau Schnobelsberger |
Die Enthusiasten stehen im Zentrum von Jamisons Untersuchungen, nachdem sie festgestellt hatte, dass es zu deren heller, dem Leben zugewandten Seite auch eine dunkle Seite gibt. In gewisser Weise erklärt die eine Seite die andere.
Aber davon will ich nicht reden, sondern über die
Begeisterung der Psychologin für die Enthusiasten. Und ich will Dich, Esther, ein
wenig in das Licht dieser Begeisterung stellen.
Jamison hat selbstkritisch angemerkt, dass besonders ihr eigenes Volk, die US-Amerikaner vielfach von Enthusiasmus angesteckt sind und sich deshalb im Kreis von nüchternen Europäern immer ein wenig zurücknehmen müssen, wenn sie nicht unangenehm auffallen wollen. Jamisons Urbild eines Enthusiasten ist der frühere Präsident Bill Clinton, der keinen Raum betreten konnte, ohne nicht nach spätestens fünf Minuten auf einen Menschen zu treffen, der ihm als die wichtigste Begegnung seines Lebens erschien.
„Was, sie sind Tierarzt? Das ist ja hervorragend! Bei uns zu Hause gibt es große Viehherden, und ich habe immer den Eindruck gehabt, dass sie medizinisch unterversorgt sind. Ich werde einmal versuchen, sie mit den maßgeblichen Leuten dort in Verbindung zu bringen.“ Jamison lobt Clinton dafür, dass er solche Ankündigungen oft überraschend wahr gemacht hat. Dann bekam der Tierarzt ein paar Wochen später einen Anruf und wurde in eine wichtige staatliche Kommission berufen oder wurde gar Minister.
Enthusiasten wissen um die Bedeutung bestimmter Augenblicke. Sie sind dann in der Lage, überraschende Verbindungen zwischen Menschen herzustellen, die sich später tatsächlich oft als haltbar erweisen. Sie wissen, dass von solchen Begegnungen bedeutende Entwicklungen angestoßen werden können. Ihnen gehören solche Momente der Begegnung, ja, ihnen gehört in solchen Momenten die ganze Welt.
Von unserem Großvater Erwin Bohle, einem der größten Enthusiasten in unserer Familie, hat mir ein alter Mann erzählt, er habe ihn, den Baptistenprediger, kurz nach dem Krieg in unserer zerbombten Stadt an einer Straßenbahnhaltestelle warten sehen. Er trug eine notdürftig geflickte Hose und war so arm wie alle Menschen damals. „Er hatte keinen Pfennig Geld bei sich“, sagte mir der Mann, „bestenfalls zwei Hosenknöpfe in der Tasche. Aber er schaute in die Welt, als ob sie ihm gehören würde.
Und in gewisser Weise gehörte sie ihm auch – er ging zu Fuß über die Müngstener Eisenbahnbrücke und predigte voller Überzeugung, was seine Sendung betraf, in einer übervollen Solinger Stadthalle der geistlich ausgehungerten Nachkriegsgeneration das Evangelium.
Es gibt ein Foto dieses früh verstorbenen Großvaters, das ihn mit einem leuchtenden Blick zeigt. „Touched With Fire“, vom Feuer berührt, könnte man sagen. So heißt ein neuer Film, der Erzählungen aus einem Buch von Jamison verarbeitet.
Es gab diesen Feuerblick auch in den Augen seines ältesten Sohnes, unseres Onkels Adalbert, den seine Studenten, die ihn liebten, hinter der Hand "Bohle Deutschland" nannten. Er wusste das und hörte es nicht einmal ungern. Was er zu sagen hatte, war eigentlich immer an Deutschland adressiert.
Wir sind unter Enthusiasten groß geworden. Besonders unser Vater war einer und konnte jede Unterhaltung an sich reißen, indem er die anderen unterbrach und losredete "ich muss euch unbedingt noch diese eine Sache erzählen!" Dieses "muss" erschien mir sein Markenzeichen zu sein, und ich hatte oft den Eindruck, die Leute nahmen es ihm nicht einmal übel. Unsere Gesellschaft braucht Leute, die irgendetwas erzählen m ü s s e n, nicht nur Leute, die es wollen.
Wie wird man zum Enthusiasten? Nun, ich glaube, dass in jedem von uns gelegentlich die Idee entsteht, sich vor die andere Menschen zu stellen und ihnen ein paar Sätze zu sagen, vielleicht ein Gedicht, eine gesungene Liedstrophe, oder – wie ich in diesem Moment – eine Rede zum Geburtstag der Schwester. Irgendetwas schlummert da in uns allen.
Wir bemerken, dass es im Umgang der Menschen miteinander oft lange Lücken gibt, Gesprächspausen, die man als peinlich empfindet. Und dann reifen in den Enthusiasten Gedanken, diese Lücken zu füllen – etwa indem man eine Frau Schnobelsberger darin auftreten lässt.
Ich kann mich an viele Momente erinnern, und jetzt will ich doch persönlich reden, an denen Du, Esther, diese Welt durch Deinen Enthusiasmus bereichert hast. Ich denke da besonders an die vielen Glanzpunkte, die Du immer wieder dem Leben Deiner 13 Nichten und Neffen aufgesetzt hast. Du hast sie mit Deinem Enthusiasmus mitgezogen, hast ihnen neue Städte gezeigt, hast ihnen neue geistige Orte in der Welt erschlossen. Sie haben es Dir ja gerade noch einmal in ihrem Musikbeitrag dokumentiert.
Und noch eine andere Erinnerung: in einem Deiner vielen Sketche, einem, den ich besonders liebe, hast Du, damals selbst noch ein Teenager, ein Telefongespräch nachgespielt, in dem unsere Mutter einer verzagten Gesprächspartnerin mit den Worten Mut machte "die Fahne raus, Lotte!" Vielleicht ist das der Wahlspruch aller Enthusiasten und Deine besondere Botschaft an uns alle.
Die Fahne raus! Enthusiasten aller Länder vereinigt euch und bereichert diese Welt durch glückliche Momente.
Jamison hat selbstkritisch angemerkt, dass besonders ihr eigenes Volk, die US-Amerikaner vielfach von Enthusiasmus angesteckt sind und sich deshalb im Kreis von nüchternen Europäern immer ein wenig zurücknehmen müssen, wenn sie nicht unangenehm auffallen wollen. Jamisons Urbild eines Enthusiasten ist der frühere Präsident Bill Clinton, der keinen Raum betreten konnte, ohne nicht nach spätestens fünf Minuten auf einen Menschen zu treffen, der ihm als die wichtigste Begegnung seines Lebens erschien.
„Was, sie sind Tierarzt? Das ist ja hervorragend! Bei uns zu Hause gibt es große Viehherden, und ich habe immer den Eindruck gehabt, dass sie medizinisch unterversorgt sind. Ich werde einmal versuchen, sie mit den maßgeblichen Leuten dort in Verbindung zu bringen.“ Jamison lobt Clinton dafür, dass er solche Ankündigungen oft überraschend wahr gemacht hat. Dann bekam der Tierarzt ein paar Wochen später einen Anruf und wurde in eine wichtige staatliche Kommission berufen oder wurde gar Minister.
Enthusiasten wissen um die Bedeutung bestimmter Augenblicke. Sie sind dann in der Lage, überraschende Verbindungen zwischen Menschen herzustellen, die sich später tatsächlich oft als haltbar erweisen. Sie wissen, dass von solchen Begegnungen bedeutende Entwicklungen angestoßen werden können. Ihnen gehören solche Momente der Begegnung, ja, ihnen gehört in solchen Momenten die ganze Welt.
Von unserem Großvater Erwin Bohle, einem der größten Enthusiasten in unserer Familie, hat mir ein alter Mann erzählt, er habe ihn, den Baptistenprediger, kurz nach dem Krieg in unserer zerbombten Stadt an einer Straßenbahnhaltestelle warten sehen. Er trug eine notdürftig geflickte Hose und war so arm wie alle Menschen damals. „Er hatte keinen Pfennig Geld bei sich“, sagte mir der Mann, „bestenfalls zwei Hosenknöpfe in der Tasche. Aber er schaute in die Welt, als ob sie ihm gehören würde.
Und in gewisser Weise gehörte sie ihm auch – er ging zu Fuß über die Müngstener Eisenbahnbrücke und predigte voller Überzeugung, was seine Sendung betraf, in einer übervollen Solinger Stadthalle der geistlich ausgehungerten Nachkriegsgeneration das Evangelium.
Es gibt ein Foto dieses früh verstorbenen Großvaters, das ihn mit einem leuchtenden Blick zeigt. „Touched With Fire“, vom Feuer berührt, könnte man sagen. So heißt ein neuer Film, der Erzählungen aus einem Buch von Jamison verarbeitet.
Es gab diesen Feuerblick auch in den Augen seines ältesten Sohnes, unseres Onkels Adalbert, den seine Studenten, die ihn liebten, hinter der Hand "Bohle Deutschland" nannten. Er wusste das und hörte es nicht einmal ungern. Was er zu sagen hatte, war eigentlich immer an Deutschland adressiert.
Wir sind unter Enthusiasten groß geworden. Besonders unser Vater war einer und konnte jede Unterhaltung an sich reißen, indem er die anderen unterbrach und losredete "ich muss euch unbedingt noch diese eine Sache erzählen!" Dieses "muss" erschien mir sein Markenzeichen zu sein, und ich hatte oft den Eindruck, die Leute nahmen es ihm nicht einmal übel. Unsere Gesellschaft braucht Leute, die irgendetwas erzählen m ü s s e n, nicht nur Leute, die es wollen.
Wie wird man zum Enthusiasten? Nun, ich glaube, dass in jedem von uns gelegentlich die Idee entsteht, sich vor die andere Menschen zu stellen und ihnen ein paar Sätze zu sagen, vielleicht ein Gedicht, eine gesungene Liedstrophe, oder – wie ich in diesem Moment – eine Rede zum Geburtstag der Schwester. Irgendetwas schlummert da in uns allen.
Wir bemerken, dass es im Umgang der Menschen miteinander oft lange Lücken gibt, Gesprächspausen, die man als peinlich empfindet. Und dann reifen in den Enthusiasten Gedanken, diese Lücken zu füllen – etwa indem man eine Frau Schnobelsberger darin auftreten lässt.
Ich kann mich an viele Momente erinnern, und jetzt will ich doch persönlich reden, an denen Du, Esther, diese Welt durch Deinen Enthusiasmus bereichert hast. Ich denke da besonders an die vielen Glanzpunkte, die Du immer wieder dem Leben Deiner 13 Nichten und Neffen aufgesetzt hast. Du hast sie mit Deinem Enthusiasmus mitgezogen, hast ihnen neue Städte gezeigt, hast ihnen neue geistige Orte in der Welt erschlossen. Sie haben es Dir ja gerade noch einmal in ihrem Musikbeitrag dokumentiert.
Und noch eine andere Erinnerung: in einem Deiner vielen Sketche, einem, den ich besonders liebe, hast Du, damals selbst noch ein Teenager, ein Telefongespräch nachgespielt, in dem unsere Mutter einer verzagten Gesprächspartnerin mit den Worten Mut machte "die Fahne raus, Lotte!" Vielleicht ist das der Wahlspruch aller Enthusiasten und Deine besondere Botschaft an uns alle.
Die Fahne raus! Enthusiasten aller Länder vereinigt euch und bereichert diese Welt durch glückliche Momente.
Noch ein Nachsatz.
In meinem Kopf hat sich ein weiterer Gedanke Jamisons fortgesponnen. Sie weist in ihrem Interview auf die Doppeldeutigkeit des Wortes Enthusiasmus hin, weil in ihm auch das Wort Gott steckt, Theos.
Leute die en theos sind, in Gott oder Gott in ihnen, sind Enthusiasten, sie haben einen göttlichen Funken, der sie in die Lage versetzt, auch in kleinen Begebenheiten das jeweils Große zu sehen, den Anstoß zu einer neuen Entwicklung, die große Chance, letztlich Ewigkeit.
Wie wäre es, wenn um uns herum Menschen lebten, nicht nur einige wenige, sondern viele, vielleicht alle, die solche göttlichen Funken in sich tragen? Es gibt eine uralte Vorstellung, „gnostisch“ genannt, die sich mit diesen über die ganze Erde verstreuten Funken verbindet. Die frühe Kirche hat sie als Irrlehre abgewiesen. Aber es bleibt etwas Angenehmes in diesem Gedanken, und er lässt mich nicht los.
Was wäre, wenn am Ende jeder Mensch Enthusiast ist, wenn jeder etwas unmittelbar von Gott oder von einer höheren Macht geschenkt bekommen hat, was nur er, in diesem konkreten Moment an die Welt weitergeben kann?
Der Traum von einem solchen Gottesgeschenk steckt möglicherweise in uns allen. Er gibt unseren alltäglichen Bemühungen Würde und Schönheit. Er leitet uns an, an uns selbst zu glauben, auch wenn der Enthusiasmus einmal umkippt und die andere Seite unseres Wesens die Überhand gewinnt, die dunkle, die melancholische.
Esther, ich erzählte schon von dem Sketch, in dem Du als unsere Mutter die etwas verzagte Tante Lotte aufforderte, den Kampf des Lebens mit aller Kraft aufzunehmen und die Fahne raus zu tun.
„Die Fahne raus, Lotte!“ Das waren die wichtigsten Worte dieses Sketches, ich habe sie nie vergessen. Ich sage jetzt einmal frei: jeder hat eine solche Fahne, und Du hast uns allen Mut mit Deinem lebenslangen Enthusiasmus Mut gemacht, sie zu zeigen. Ich danke Dir dafür.
In meinem Kopf hat sich ein weiterer Gedanke Jamisons fortgesponnen. Sie weist in ihrem Interview auf die Doppeldeutigkeit des Wortes Enthusiasmus hin, weil in ihm auch das Wort Gott steckt, Theos.
Leute die en theos sind, in Gott oder Gott in ihnen, sind Enthusiasten, sie haben einen göttlichen Funken, der sie in die Lage versetzt, auch in kleinen Begebenheiten das jeweils Große zu sehen, den Anstoß zu einer neuen Entwicklung, die große Chance, letztlich Ewigkeit.
Wie wäre es, wenn um uns herum Menschen lebten, nicht nur einige wenige, sondern viele, vielleicht alle, die solche göttlichen Funken in sich tragen? Es gibt eine uralte Vorstellung, „gnostisch“ genannt, die sich mit diesen über die ganze Erde verstreuten Funken verbindet. Die frühe Kirche hat sie als Irrlehre abgewiesen. Aber es bleibt etwas Angenehmes in diesem Gedanken, und er lässt mich nicht los.
Was wäre, wenn am Ende jeder Mensch Enthusiast ist, wenn jeder etwas unmittelbar von Gott oder von einer höheren Macht geschenkt bekommen hat, was nur er, in diesem konkreten Moment an die Welt weitergeben kann?
Der Traum von einem solchen Gottesgeschenk steckt möglicherweise in uns allen. Er gibt unseren alltäglichen Bemühungen Würde und Schönheit. Er leitet uns an, an uns selbst zu glauben, auch wenn der Enthusiasmus einmal umkippt und die andere Seite unseres Wesens die Überhand gewinnt, die dunkle, die melancholische.
Esther, ich erzählte schon von dem Sketch, in dem Du als unsere Mutter die etwas verzagte Tante Lotte aufforderte, den Kampf des Lebens mit aller Kraft aufzunehmen und die Fahne raus zu tun.
„Die Fahne raus, Lotte!“ Das waren die wichtigsten Worte dieses Sketches, ich habe sie nie vergessen. Ich sage jetzt einmal frei: jeder hat eine solche Fahne, und Du hast uns allen Mut mit Deinem lebenslangen Enthusiasmus Mut gemacht, sie zu zeigen. Ich danke Dir dafür.
1 Kommentar:
Eine schöne Rede, die ihren Wahrheitsbeweis garin hat, daß sie auch einem bekennenden Anti-Enthusiasten gefällt.
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