Freitag, 27. Februar 2009

Zur Extraktion schreiten






„Wir müssen zur Extraktion schreiten“, sagt der Zahnarzt zu Thomas Buddenbrook, und der entgegnet „Schreiten Sie nur“. Die Operation mißglückt. Der Zahn zerbricht, bevor er heraus ist, und der Senator stirbt wenig später an den Folgen.

Bei mir ging es heute unvergleichlich viel besser, der freundliche und geschickte Doktor Reitz holte den Backenzahn unter starker örtlicher Betäubung nach kurzer Zeit in einem Stück heraus und säuberte außerdem die seit Monaten permanent leicht entzündete Stelle im Knochen, wo die tote Wurzel des Zahnes für Unordnung gesorgt hatte.

Ich sitze jetzt, drei Stunden nach dem Eingriff, fast schmerzfrei im Zimmer und überlege bereits, welche Mahlzeit ich mir gleich im Mixer zu Brei verarbeiten und zu mir nehmen will.

In den letzten Tagen hatte ich den Gedanken bewegt, ich könnte es dem Senator gleich tun und nach der Operation verscheiden. Mit solchen Gedanken müssen sich Menschen quälen, die zu viel lesen.


Freitag, 6. Februar 2009

Ende nach 111 Jahren





Gestern hat die Bauunternehmung Christian Runkel beim Amtsgericht Remscheid Insolvenz angemeldet. Es ist die Firma meines Bruders und von vier Vettern, alle wie ich Urenkel des Firmengründers Christian Runkel, der von 1860 bis 1939 lebte. Er ist um das Jahr 1880 herum als Saisonarbeiter aus dem Raum Gummersbach in das damalige Barmen eingewandert, 90 km zu Fuß. Seine Firma hat er 1898 in Remscheid gegründet.

Meine eigene Firma gleichen Namens ist nicht betroffen, ich habe das kleine Verwaltungsbüro, das zur Bauunternehmung gehörte, 1986 aus dieser herausgenommen und eine selbständige Firma daraus gemacht. Aber natürlich bin ich mit der alten Firma, in der ich die ersten zwölf Berufsjahre verbracht habe, nicht nur über den Namen sondern auf vielfältige Weise auch menschlich verbunden, mit ihren Inhabern und Mitarbeitern.

Über die Ursachen ihres Endes wird man in den nächsten Wochen und Monaten sicherlich unterschiedliche Gründe erfahren. Ich selbst kann nur wenig sicheres Wissen dazu beitragen. Vielleicht wird man die gegenwärtige Wirtschaftskrise als Hauptursache betrachten, allerdings gab es die angespannte Finanzlage nicht erst seit ein paar Tagen bei der Bauunternehmung.

Die verschiedenen Inhaber der Firma haben von Generation zu Generation die Angst vererbt, eines Tages "im schwarzen Anzug, das Hauptbuch unter dem Arm" zum Amtsgericht gehen zu müssen. Sie haben oft davon gesprochen und diese Angst als Hauptantrieb ihres täglichen Handelns angesehen.

Nun müssen ihre Söhne und Enkel den bitteren Schritt tun. Ich hoffe und bete, daß er sich in mancher Hinsicht als ein Schritt ins Freie erweisen wird.


Sonntag, 1. Februar 2009

John Updike (1932 – 2009)








Er war in einem altmodischen Sinn mein Lieblingsschriftsteller, weil er einer war, der einem die Welt so erzählen konnte, daß man sie verstand. Es war zwar eine begrenzte Welt, über die er schrieb, eine Art Updike World, bevölkert von einander ähnlichen Typen des amerikanischen Mittelstands. Aber es war eine Welt, in die man mit jedem Buch neu und gerne reiste und mit der man schnell vertraut war. Trotz ihrer Eigenarten und Grenzen war sie meiner eigenen Welt verwandt, ähnlich der Welt Tolstois mit ihren Fürstenhäusern, die hoch über uns stehen aber doch von uns vollkommen ähnlichen Menschen bewohnt sind.

Updike war in sexuellen Dingen sehr deutlich und detailgetreu. Wenn ich ihm je begegnet wäre, hätte ich ihn als erstes gefragt, warum – aber ich ahne schon, daß er mir von der alten Tradition der Realisten erzählt hätte, zu denen er mit Balzac, Flaubert, Dickens, Tolstoi, Fontane und Thomas Mann gehörte, und die alle sehr bewußt um ihre Glaubwürdigkeit im Herzen des Lesers gekämpft haben. Die hing oft davon ab, ob man das Mobilar eines Wohnzimmers, in das die Hauptfigur des Romans gleich eintreten würde, im Detail richtig beschrieb.

Updike hat statt des Mobilars das Geschehen im Schlafzimmer genau aufgezeichnet und mit seiner Detailkenntnis dem Leser bewiesen, daß er seine Geschichten korrekt erzählte. So ist jedenfalls meine Theorie.

Übrigens gab es bei Updike nicht die Tragödien des Schlafzimmers, die der an dieser Stelle leidgeprüfte Tolstoi hinter allen Tragödien des menschlichen Lebens vermutet hat. Bei Updike wird zwar viel gesündigt, aber es ist eigenartigerweise meist so viel Gnade über dem Geschehen, daß die Sünde nicht Ursache einer Tragödie wird. Das hat sicher damit zu tun, daß Updike ein bewußter Christ gewesen ist, er hat es immer wieder so bekannt.

Er hat als junger Mensch eine einfache Formel* für seinen Glauben gefunden:

1. If God does not exist, the world is a horror-show.
2. The world is not a horror-show.
3. Therefore, God exists.

(Wenn Gott nicht existiert, ist die Welt eine Horror-Show, die Welt ist keine Horror-Show, also existiert Gott.)

Das reicht sicherlich nicht aus, um ein dogmatisches Lehrgebäude darauf zu errichten, aber man kann den Dreisatz gelegentlich als Hausmittel ausprobieren, wenn einem die Existenz Gottes fragwürdig erscheinen will.

Ob der Dreisatz ausreicht um in den Himmel zu kommen, ist eine andere Frage, aber man wünscht es John Updike natürlich, daß er nach seinem Tod am 27. Januar 2009 oben angekommen ist.


Nach katholischem Verständnis könnte dem Protestanten Updike das Zeugnis seiner zweiten Frau den Eintritt erleichtert haben. Sie hat über ihn, der auf den meisten Bildern freundlich lächelt, gesagt, er sei the most goodhearted man in the world, der gutherzigste Mensch der Welt.

Als solchen will ich ihn in Erinnerung behalten.


* zitiert nach seiner Autobiographie "Self -Consciousness" aus dem Jahre 1989, Verlag Knopf, Seite 230