Montag, 31. Oktober 2022

Mevlüde Genç (5. Februar 1943 – 30. Oktober 2022)


Gestern ist das Oberhaupt der Familie Genç, die am 29. Mai 1993 bei dem Brandanschlag in der Unteren Wernerstraße 81 in Solingen fünf Mitglieder verloren hatte, in Solingen gestorben. Sie wurde 79 Jahre alt.

Bei dem Anschlag haben sie und ihr Mann zwei Töchter im Alter von 28 und 19 Jahren verloren, außerdem zwei Enkelkinder, neun und fünf Jahre alt, und eine zwölfjährige Nichte. Andere Mitglieder ihrer Familie wurden teilweise schwer verletzt.

Zur Verantwortung gezogen wurden vier junge Männer aus Solingen, die zum Tatzeitpunkt teilweise noch unter Jugendstrafrecht standen.

Ich erinnere mich noch gut, dass damals mit türkischen Fahnen wie gepanzert wirkende Autos durch meine Heimatstadt Remscheid in Richtung auf den Nachbarort Solingen fuhren. Ein großer grüner BMW, dessen Motorhaube ganz mit einem roten, mit Halbmond und Stern verzierten Fahnentuch bedeckt war und dessen junge Insassen finster und entschlossen in Richtung Solingen blickten, ist mir noch in besonderer Erinnerung. Ich bin selbst zwei oder drei Tage nach dem Anschlag in die Untere Wernerstraße gefahren und habe zusammen mit vielen anderen betroffenen Menschen an der Ruine gestanden.

Ich habe später erfahren, dass die besonnene und von Anfang an versöhnliche Reaktion der Familie Genç ganz stark dabei mitgeholfen hat, die damals beginnenden gewalttätigen Unruhen im Keim zu ersticken. Ich sehe noch in der Nähe des Tatortes die mit großen Holzplatten abgesicherten Schaufenster verschiedener Solinger Geschäfte vor mir. Uns allen drohte damals eine große Eskalation.

Meine eigene Reaktion sah damals so aus, dass ich eine Handvoll türkische und deutsche Geschäftsleute aus meinem Bekanntenkreis zusammengerufen und ein regelmäßiges Mittagessen in einem China-Restaurant veranstaltet habe, dessen Essen ich damals für "halal" hielt. Wir waren uns einig, dass sich solche Anschläge nicht wiederholen durften und wollten unseren persönlichen Beitrag dazu leisten.

Weder der verblendete Hass der Attentäter noch der Ruf nach Vergeltung unter dem aufgebrachten jungen Türken entsprang der Mitte der Gesellschaft, in der wir lebten. Die Mehrheit war der Überzeugung, dass Anschläge und Krawalle gleichermaßen nicht zu unseren Grundsätzen passten..

In allem hat die besonnene Reaktion besonders von Mevlüde Genç die Wogen geglättet. Türkische Freunde, die Frau Genç später besucht haben, erzählten mir von dem starken persönlichen Eindruck, den sie von dem Besuch mitgenommen haben. Mevlüde Genç wollte die überlebenden Familienmitglieder nicht mit einer ewigen Trauer belasten und außerdem das Land, in dem sie lebte und dessen Bürgerin sie wenige Jahre nach dem Attentat wurde, nicht dauerhaft mit Vorwürfen überziehen. Das Attentat hatten verirrte junge Leute begangen, halbe Kinder teilweise noch. Es war in Deutschland geschehen, es war aber dem Land nicht insgesamt anzulasten.

Mevlüde Genç hat Frieden gestiftet. Möge sie in Frieden ruhen. 

  

Mittwoch, 21. September 2022

Ein verwirrender Auftritt Putins



So wie Wladimir Putin auf einer Pressekonferenz der Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SCO) am 18. September auftritt, verwirrt er mich. Er ist nicht der Respekt gebietende Herrscher eines Weltreiches, auch keiner, der – wie Donald Trump – seine plakativen Thesen vortragen will, und ein Hitler oder Stalin ist er erst recht nicht. Er entwickelt seine Gedanken in recht freier Form während er redet, unterbricht sich gelegentlich, sucht nach einem Wort, räuspert sich immer wieder und wirkt wie ein gut ausgebildeter Experte für Fragen des politischen Alltags, nicht wie der alles beherrschende Imperator. "Guten Abend - ich höre." So knapp und sachlich beginnt er.

Die ihn fragenden Journalisten wirken frei, werden von ihm auch nicht – wie bei Donald Trump – in irgendeiner Form gemaßregelt oder herabgesetzt. Das alles geht in einer recht freien Form seinen Weg. Die Seite "Kremlin.ru" hat das englischeTranskript.

Für ihn ist offenbar die „Operation" in der Ukraine nur ein vergleichsweise kleines Thema, auch wenn die Journalisten ihn immer wieder danach fragen. Putin redet über die internationalen Auswirkungen des Konfliktes und berichtet etwa detailliert, dass von den mittlerweile 121 Schiffen mit Getreideladungen bedauerlicherweise nur drei bei armen Völkern angekommen sind. Der Westen hätte sich den größten Teil der Lieferungen selbst nach Hause beordert, was Putin zu der leidenschaftslosen Feststellung veranlasst, dies alles seien frühere Kolonialmächte, die sich auch heute nicht abgewöhnt hätten, auf Kosten der ärmeren Länder zu leben.

Was die Energieknappheit in Europa betrifft, so weist er daraufhin, dass schon lange vor der „Operation“ in der Ukraine die Europäer ihre Energieversorgung von Öl / Gas auf alternative Energien umgestellt hätten. Dass das alles nicht zum selben Preis zu haben sei, das hätten die Europäer nicht berechnet – ihr Fehler.

In dieser in einem ruhigen Wohnzimmerton vorgetragenen Gedankenkette sucht man vergeblich nach der großen Lüge, in die sich das Denken Putins verstrickt hat. Wie gesagt – er ist kein Hitler und kein Napoleon, er ist aber auch kein Joseph Goebbels und kein Donald Trump, der ständig seine plakativen Thesen vor sich her trägt.

So wie er da steht und sehr selbstsicher seine Gedanken vorträgt, steigt der Gedanke in einem hoch, was wäre, wenn er tatsächlich den Krieg gewinnt. In dem bekannten Buch „The Rise and Fall of the Great Powers“ (Paul Kennedy, 1988) wird gleich zu Beginn die These vertreten, dass die stärkeren finanziellen Mittel am Ende viele Kriege entscheiden. 

"... victory has repeatedly gone to the side with the more flourishing productive base—or, as the Spanish captains used to say, to him who has the last escudo."

Da ist Putin zweifach im Vorteil – er verfügt über einen gigantischen Vorrat an Rohstoffen und hat auf unserer Seite Gegner, die möglicherweise schon recht bald über zusammenbrechenden Lieferketten und erschöpfte, von steigenden Zinsen belastete öffentliche Haushalte in die Knie gezwungen werden.

Schön ist das alles nicht.

Samstag, 27. August 2022

Im Fischerhaus

Gestern hat mir der 74-jährige Eigentümer unserer Ferienwohnung die Geschichte seines Hauses erzählt. Es ist tatsächlich, wie wir bisher angenommen hatten, ein Fischerhaus, war dies aber nicht immer.

Der um das Jahr 1900 hier wohnende Fischer befischte die an dieser Stelle zu einem bis zu 600 m breiten See aufgestaute Havel und hatte zum See hin einen etwa 25 m breiten Garten, den eine stabile Mauer zum Wasser abschloss und der an einer Seite einen Anlegesteg und eine flache Stelle hatte, an der man ein Boot zu Wasser lassen konnte.

Er hat dieses Anwesen in den dreißiger Jahren an einen wohlhabenden Berliner Kaufmann übertragen, der hier ein Nest für seine Geliebte und ein gemeinsames Kind einrichtete und regelmäßig am Wochenende zu Besuch kam.

Der Großvater des gegenwärtigen Eigentümers war ebenfalls Fischer gewesen , in Pommern, und hatte sich nach den Wirren des ersten Weltkrieges, in denen der Danziger "Korridor" entstand, weiter westlich eine neue Heimat gesucht. So war er Fischer an der Havel geworden und hatte auch seine Kinder in diesem Beruf erzogen.

Auch sein Enkel, der jetzige Eigentümer, versteht sich noch auf das Aufstellen von Reusen und auf viele andere Dinge, die man für den Fischfang gelernt haben muss. Er hat aber sein Geld überwiegend mit Arbeiten in der Industrie verdient.

Sein Vater hat das Anwesen erst in den siebziger Jahren von der mittlerweile hochbetagten Geliebten des
Berliner Kaufmanns oder deren Erben erworben und hat noch eine Zeit lang von diesem Haus aus die Havel befischt. Er hatte vorher an einer anderen Stelle in Werder gewohnt und hatte dort als Fischer die Veränderungen erlebt, die durch die Enteignung und Neuordnungen der DDR entstanden waren – und später auch noch deren Rückbau. Der Sohn stellt die Arbeit in der Fischerei-Kolchose positiv dar, trotz des anfänglichen Ärgers, den der Vater aufgrund  des Verlustes seines Eigentums empfunden hat. 

Über die neuen Entwicklungen durch Zuzug reicher Leute auf die Insel spricht der Sohn, unser Wirt, kritisch, obwohl er erkennbar selbst davon profitiert hat. Einige Nachbarhäuser ähnlicher Bauart und ebenfalls mit Zugang zur Havel, würden mittlerweile für siebenstellige Beträge gehandelt, erzählt er.

Das alte Fischerhaus lag wie gesagt am oberen Ende eines langen Gartens, unmittelbar an der Straße. Der jetzige Eigentümer ist von Potsdam aus in den neunziger Jahren nach Werder gezogen, da lebte sein Vater noch, und hat sich unterhalb des alten Fischerhauses einen Bungalow in den Garten gebaut

Das Fischerhaus hat er gründlich renoviert und zwei Ferienwohnungen darin eingerichtet, in deren einer wir jetzt zum wiederholten Male wohnen. Schön ist es hier!




Freitag, 26. August 2022

Die pascalsche Wette

Kürzlich las ich die kritisch-spöttischen Worte eines Mannes, der sagte, im Himmel würden die Leute, die aufgrund der pascalschen Wette geglaubt haben, mit Stirnrunzeln empfangen und in einer Abteilung zweiter Klasse untergebracht. Ich habe diese Bemerkung so verstanden, dass ein Glaube, der auf reinen Wahrscheinlichkeitsüberlegungen aufbaut, nicht als vollwertig anerkannt werden kann.

Die pascalsche Wette sagt, dass die größere Wahrscheinlichkeit, bei der Entscheidung Glaube/Unglaube sein Glück zu machen, auf der Seite „Glaube“ liegt. Im Falle, dass dieser Glaube nicht richtig liegt, schadet das nichts. Im Falle dass der Unglaube dagegen sich als falsch erweist, gerät der Mensch in große Probleme.

Zur Verteidigung der pascalschen Wette las ich jetzt in einem älteren Artikel von Rüdiger Safranski, dass er gar nicht annehme, Pascals Glaube habe sich aus dieser Wette begründet*. „Es ist wohl eher so, dass etwas in ihm glauben will oder schon glaubt, und der Intellekt bietet ihm (und anderen Zweiflern) ein Kalkül an, mit dessen Hilfe er sich gegen mögliche Einreden zu seinem Glauben ermuntert.“

Was könnte das sein, das „in uns glaubt“? Safranski nimmt an, dass der Gläubige Christ sagen würde, so Safranski: „Christus ist in mein Leben getreten und seine lebendige Gegenwart ist dasjenige, was mich glauben lässt.“

Mich hat dieser Satz aus Safranskis Mund verwundert, hat mich aber auch gleichzeitig an Erlebnisse in meiner Kindheit erinnert, in denen die meisten Christen in meiner Umgebung von sich sagten, sie hätten Jesus „in ihr Herz gelassen“ und dass sei letztlich die Quelle ihres Glaubens.

Mittlerweile muss ich von den meisten Christen in meiner Umgebung annehmen, dass sie eher einer intellektuellen Erwägungen ähnlich der pascalschen Wette folgen, wenn sie von sich selbst sagen, dass sie glauben.

Die intellektuelle Durchdringung der Welt mit ihren überwältigenden Ergebnissen verlangt von uns allen, dass wir auch den Glauben intellektuell begründen können, eine „Rechenschaft vom Glauben“ abgeben können, die kritischem Nachdenken genügt.

Aber genügt sie den Ansprüchen an einen wirklich gefestigten Glauben? In dem Buch von 1995, in dem der Artikel von Rüdiger Safranski erschienen ist**, schreibt auch Botho Strauß von einem ähnlichen Zugang zum Glauben: er zitiert Ernst Jünger, dem das fragliche Buch gewidmet ist, dass zwei Denker (Vico und Hamann), die nicht in der Tradition der Aufklärung (Kant und Descartes) stehen, letzteren vorzuziehen sind, denn „die Kraft dieser Geister beruht auf Offenbarung, nicht auf Erkenntnis.“



* Pascal hat eine Offenbarung erlebt, über die er eine Aufzeichnung notiert hat, die er zeitlebens mit sich herumtrug. Sie lautete:


Jahr der Gnade 1654

Montag, den 23. November, Tag des heiligen Klemens, Papst und Märtyrer, und anderer im Martyrologium.

Vorabend des Tages des heiligen Chrysogonos, Märtyrer, und anderer.

Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht

                                Feuer

Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.

Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Der Gott Jesu Christi.

Deum meum et Deum vestrum.

Dein Gott ist mein Gott.

[...]


** "Magie der Heiterkeit, Ernst Jünger zum Hundertsten", Herausgegeben von Günter Figal und Heimo Schwilk

Montag, 15. August 2022

Mein Leben als Busfahrer

Nachdem ich im Juli aus meiner Firma ausgeschieden bin, ist mir der Gedanke vertrauter geworden, zukünftig gelegentlich statt des Autos die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Besonders entgegen kam mir dabei das für drei Monate angebotene Neun-Euro-Ticket, das ich für den Monat Juli erworben, dann zwar nicht benutzt aber durch Internet-Recherchen rund um das Ticket doch viel Nützliches gelernt habe.

So ist etwa die Suchfunktion "Routenplaner" in Google Maps so ausgestattet, dass über das Symbol für Busse und Bahnen sämtliche Haltestellen in der Nähe und sämtliche hinterlegten Fahrpläne abzurufen sind. Ich kann also mitten im Wald auf die Idee kommen, ich wollte jetzt mit dem Bus oder der Eisenbahn nach Hause fahren – und Google Maps führt mich zur nächsten Haltestelle am Waldrand und von dort nach Hause.

Meine allererste Busfahrt mit dem neuen Wissen habe ich heute nicht ganz freiwillig gewählt – ein Augenarzttermin brachte es mit sich, dass meine Pupillen erweitert wurden, was das Fahren mit dem eigenen Auto unmöglich machte.

Tickets lassen sich papierlos auf das Handy bestellen (siehe die Abbildung) das lernte ich auch. Es erwies sich allerdings – erste negative Erfahrung – als relativ schwierig. Wer sich einmal in den komplizierten Strukturen der Internetseiten eines örtlichen Nahverkehrsunternehmens verwirrt hat, fragt sich, warum es bei Amazon mit zwei Klicks möglich ist, eine komplette Stereoanlage zu bestellen, während es etwa die Remscheider Verkehrsbetriebe darauf anlegen, den Kunden eine Reihe von Stolpersteine in den Weg zu legen, bevor sie für € 2,90 ein elektronisches Ticket erhalten können.

Nachdem mir dies nun aber mit einiger Mühe gelungen war, setzte ich mich nach Auswahl des passenden Busses an die nächste Haltestelle und wartete auf die Linie 654, die mit einigen Minuten Verspätung schließlich auch kam. Eigenartigerweise nahm der Busfahrer mein mit dem Handy hochgehaltenes elektronisches Ticket kaum zur Kenntnis. Die Frage blieb unbeantwortet, ob man das Handy  an die Stirnseite des kleinen Kastens halten muss, der vorne neben dem Fahrer aufgestellt ist, oder auf den Kasten oben drauf legen muss. Egal, ich hatte den Eintritt geschafft.

Ich ging dann zielstrebig vom Fahrer weg einige Schritte in den Mittelgang des stark überfüllten Busses, als der Fahrer dann schließlich doch etwas hinter mir her rief. Ich verstand es zunächst nicht und hatte es auch gar nicht auf mich bezogen, bis die Augen von einem guten Dutzend arabisch aussehender Frauen alle auf mich gerichtet waren und eine von ihnen auf mich zeigte und sagte „Maske!“ Jetzt verstand ich auch, was der Busfahrer in einem überaus barschen Ton rief, ich solle nämlich eine Maske aufsetzen.

Ich war jetzt recht unsanft aus der Komfortzone herausgerissen, in der ich mich regelmäßig befinde, wenn ich Transaktionen im Amazon-Paradies abwickle. Ich weiß nicht, ob der grobe Busfahrer anders reagiert hätte, wenn er gewusst hätte, dass dies die allererste Fahrt mit einem elektronischen Ticket für mich war.

Immerhin stand eine der jüngeren Frauen mit den arabischen Augen auf und bot mir ihrem Platz an – für einen älteren Mann, der in der Illusion lebt, man sehe ihm sein Alter nicht an, ein eher unangenehmer Vorgang. Allerdings konnte ich ab da meine Fahrt fortsetzen und in dem Buch lesen, dass ich mir in Erwartung einer längeren Wartezeit beim Augenarzt mitgenommen hatte. „Der Tod des Iwan Iljitsch“ von Leo Tolstoi. Wie sich herausstellte, war es eine gute Einstimmung auf die Probleme des Alters.


Dienstag, 12. Juli 2022

Festschrift 1948

Von der Stirne heiß
Rinnen muss der Schweiß
Soll das Werk den Meister loben
Doch der Segen kommt von oben.

Durch Vermittlung eines verwandten Architekten wollte der Maurerpolier Christian Runkel von Barmen aus, wo er mit seiner zahlreichen Familie wohnte, einem Freunde in Remscheid ein Haus bauen. Im Jahre 1876 hatte er seine Heimat im Oberbergischen verlassen* und seitdem als Hilfsarbeiter, Maurer und Polier an dem gleichen Orte gearbeitet. Am 26. Mai 1898 fuhr er nach Remscheid und schlug den Winkel zum Hause Nordstr. 82, dessen Gesamtarbeiten er ausführte. Seinen Plan, nach Barmen zurückzukehren, musste er bald aufgeben. Neue Aufträge kamen hinzu. Im Herbst desselben Jahres verkaufte er seinen mit Spargroschen erworben Haus- und Grundbesitz in Barmen und holte seine Familie nach Remscheid, wo sie in dem von ihm erworbenen Hause Wohnung nahm. Dort wurde auch das erste Büro eröffnet, in das als technischer Mitarbeiter der Bruder und Architekt Gustav Runkel einzog. Fleiß, Genügsamkeit, Sparsamkeit, Ausdauer und Wahrhaftigkeit waren die einfachen Kräfte, die das wirtschaftliche Leben der damaligen Zeit bestimmten. Der Anteil an ihnen begründete die Aufgeschlossenheit für alle weiteren beruflichen Kenntnisse, die zur Führung eines Unternehmens notwendig waren und auch den Anteil der Beteiligung an dem seltenen wirtschaftlichen Aufstieg. Im Jahre 1899 kaufte der Gründer an der damals noch ohne Unterführung durchgehenden Bismarckstraße in der Nähe der Bahn ein Grundstück. Nach der Bebauung wurden Wohnung und Büro nach dort verlegt. Ein erster Telefonanschluss unter der Nummer 364 folgte als Ereignis in der damaligen Zeit. Die zwangsläufige Übernahme mehrerer bebauter Grundstücke an der Rosenhügeler Straße brachte im Jahre 1903 die Verlegung von Wohnung, Büro und Lager nach dort. Schon im Jahre vorher hatte der älteste Sohn Adolf die Arbeit im Geschäft des Vaters aufgenommen. Eine Zeit harten wirtschaftlichen Ringens folgte. Die freie Wirtschaft hatte keinen Platz für Lässige und Müde und für die Erscheinungen, die unnatürliche Einwirkungen mit den zerstörenden und zersetzenden Einflüssen bis zu dem Ausmaß der Gegenwart brachten. Wohn- und Geschäftshäuser, Fabriken, Werkstellen, Kirchen, Kapellen und Bauten aller Art wurden in zunehmendem Umfang erstellt. Die Planungen und Berechnungen im eigenen Büro bei schlüsselfertiger Übernahme blieben mit der eigenen Ausführung aller Erd-, Maurer-, Beton- und Putzarbeiten Kennzeichen des Unternehmens. Im Jahr 1905 wurden die ersten Tiefbauarbeiten übernommen, wenige Jahre nach dem Beschluss zur Durchführung der Entwässerung des gesamten Gebietes der Stadt Remscheid. Mit dem Vorflutkanal Heidhof – Siepen wurde der Anfang gemacht. Die Arbeiten zur Kanalisation folgender Straßen oder Hauptteile derselben folgten: Daniel-Schürmann-Straße, Luisenstraße, Werthstraße, Rosenhügeler Straße, Ewaldstraße, Fischerstraße, Brucher Straße, Brüderstraße, Karlstraße, Elberfelder Straße, Hochstraße, Saarlandstraße, Scharffstraße, Sandkuhlstraße, Schützenstraße, Königstraße, Reinshagener Strasse, Fichtenstraße und Unterhölterfelder Straße. Im Jahre 1909 nahm der dritte Sohn Paul die Arbeit im Geschäft auf. Das Tätigkeitsgebiet erweiterte sich über die Städte der Nachbarschaft. Der eigene Haus- und Grundbesitz wuchs. Wohnungen für Kinderreiche, Arbeiter und kleine Angestellte bevorzugte der Inhaber, der mit acht Kindern als Arbeiter innerlich mit ihren selbsterfahrenen Nöten verbunden blieb. Die hier gewonnenen Eindrücke sind bis heute von bestimmendem Einfluss. Der erste Weltkrieg brachte einen völligen Stillstand, da restlos alle männlichen Mitarbeiter von Büro und Baustelle zum Heere mussten. Die Söhne des Inhabers kamen zurück. Sie übernahmen das Geschäft des Vaters um neu aufzubauen. Klein war der Anfang. Die alten, anfangs genannten Eigenschaften blieben Weggenossen und halfen die Widerwärtigkeiten der ersten Zeit und der dann bis 1923 folgenden Inflation überwinden. Jahre ununterbrochener zäher Arbeit folgten. Die Aufgaben wuchsen. Ein Lastwagenbetrieb wurde angegliedert. Die wachsenden Kräfte und Erfahrungen mit einem stets größer werdenden Kreis von treuen Mitarbeitern auf Büro und Baustelle erweiterten im natürlichen Aufbau Besitz und Ziele des Unternehmens. Großbaustellen folgten. Christianstraße (80 Wohnungen) Freiheitsstraße, gegenüber dem Amtsgericht, (80 Wohnungen) und Am Grafenwald sind Anfänge der weiteren Entwicklung. Entschwundene wirtschaftliche Hochleistungen hinsichtlich Organisation, Planung, Finanzierung und Durchführung sind unverwischbare Züge der damaligen Zeit. Bauzeiten von 5 - 6 Monaten vom ersten Spatenstich bis zur Bezugsfertigstellung dieser Großbaustellen bei vorher genau bestimmten Zeiten für alle Bauabschnitte, erscheinen heute, trotz der wenigen Jahre die verflossen sind, unmöglich. Im Jahre 1930 trat der Kaufmann Gustav Runkel, der zweite Sohn des Gründers, in die Firma ein. Der Radius für die zukünftigen Planungen wurde größer. Großbaustellen hauptsächlich für den Kleinwohnungsbau folgten in Wuppertal, Hamm, Siegen, Arnsberg, Gießen usw. Die Aufschließung von Gelände und die Ausführung der gesamten Arbeiten von der ersten Idee bis zur Gebrauchsübernahme unter Ausschluss jeder Initiative und Tätigkeit des Auftraggebers bei völliger eigener Verantwortung lag im Zuge der Entwicklung des Unternehmens. Sie führte durch den Umfang der Arbeiten im Jahre 1934 in Siegen zu einer dauernden Niederlassung. Bei Kriegsausbruch besaß die Firma Wohnungen in Remscheid, Wuppertal und Siegen, insgesamt rund 400. Ein Auftragsbestand für die Errichtung von ca. 300 Wohnungen, der in ungefähr sechs Monaten erledigt gewesen wäre, lag vor. Der Krieg brachte einen Wechsel der Aufgaben. Große Luftschutzgebäude in Eisenbeton wurden unter anderem in Remscheid und Siegen gebaut. Die Angriffe aus der Luft brachten den Verlust des größten Teils des gesamten geschäftlichen und privaten Eigentums. 144 Wohnungen in Siegen sind wieder aufgebaut worden. Die Ereignisse des Krieges und der Nachkriegszeit liegen zu nahe, um sie rückblickend zu schildern. Der Mitinhaber Paul Runkel wurde im vorigen Jahr plötzlich mitten aus der Arbeit durch den Tod abberufen. Drei Söhne der heutigen Inhaber sind nach Rückkehr aus der Gefangenschaft wieder tätig ein vierter wird noch zurückerwartet. Im Geiste der Väter wollen sie fortfahren.

Dankbar blicken die Inhaber auf die verflossenen 50 Jahre zurück. Mit kindliche Gläubigkeit hat der Gründer zu Gott, dem Schöpfer und Erhalt der Welt, als zu seinem Vater aufgeblickt und im Bewusstsein vieler persönliche Fehler und Mängel seinen geoffenbarten Weisungen zu folgen versucht. Seine Söhne und Enkel haben zu tiefe persönliche Eindrücke von diesem Leben empfangen, um die damit verbundenen Erkenntnisse lassen zu können. Sie fühlen sich verbunden mit den anfangs genannten Eigenschaften und möchten Träger und Erhalter derselben sein. Ohne sie sind alle Maßnahmen für jedes Gebiet des Lebens, auch für das wirtschaftliche, wertlos. Für sie einzutreten, soll Vorsatz für die Verantwortlichen des Unternehmens bleiben, auch wenn andere Grundsätze vorteilhafter zu sein scheinen.

Den Dank gegen Gott am heutigen Tage verbinden die Inhaber mit dem Dank an alle Mitarbeiter die in den 50 Jahren mit viel Fleiß und Treue dem Unternehmen und damit der Gesamtheit dienten. Sie bekennen dass die Summe der Dienste im Rhythmus der Arbeit zu wenig Anerkennung gefunden hat. Bis zu 40 Jahren haben treue Mitarbeiter den Inhabern zur Seite gestanden. Der Raum verbietet die namentliche Aufzählung mit den besonderen Verdiensten. Es soll keine Herabsetzung anderer sein, wenn mit der herzlichen Bitte um Verständnis hierfür ein Name genannt wird, der des Prokuristen Erwin Müller. Wenn die Treue die besondere Eigenschaft vieler Mitarbeiter war so hatte sie in ihm seit dem Jahr 1904 einen Vertreter seltener Prägung. Leider kann er seit einigen Jahren wegen Krankheit seine Kräfte und Erfahrungen dem Unternehmen nicht mehr geben. Dass sein Herz allen Geschehnissen folgt, ist allen bekannt. Dank auch allen Auftraggebern. Auch hier verbietet der Raum eine Aufzeichnung von Namen und Werken. Das hinsichtlich der Mitarbeiter auf den Prokuristen gesagte sei wiederholt, wenn auch hier ein Name genannt wird, der Name Dowidat. Von der ersten Schmiede hat die Firma den seltenen Aufbau dieser Firma begleiten dürfen mit der Planung und Ausführung fast aller Bauten bis zum heutigen Tage. Zwei Namen sind außer den Namen des Gründers und der Inhaber genannt. Das Vertrauen zwischen den Trägern dieser Namen wünschen sich die Inhaber für alle geschäftlichen Verbindungen der Zukunft.

Fast fünf Jahre nach der Zerstörung von Lager und Büro hat die Commerzbank, Remscheid, der Firma in ihrem Hause Villenstr. 1 möblierte Büroräume zur Verfügung gestellt. An dieser Stelle sei ihr dafür Dank gesagt. Vor kurzem sind eigene Räume auf dem alten, zum Teil wieder aufgebauten Lager, Rosenhügeler Straße 19, bezogen worden. Dort will die Belegschaft in Remscheid am 25. Juni zusammenkommen um sich in schlichter Feierstunde des Tages zu erfreuen. Die Zeitverhältnisse*** verbieten leider die Einladung der Freunde des Unternehmens und die Herausgabe eines Werkes mit einer Aufzählung und Darstellung der hauptsächlich aufgeführten Bauten.

Gott der Herr sei mit uns und unserem Volke!

Christian Runkel

Bauunternehmung

Remscheid     Siegen


* Christian Runkel, mein Urgroßvater, war damals 16 Jahre alt, er konnte die im selben Jahr bis Wipperfürth verlängerte Bahnlinie nach Barmen benutzen und dadurch den fast 60 km langen Fußweg auf etwa die Hälfte reduzieren

** Adolf Runkel, mein Großvater, war im Jahre 1902 gerade 13 Jahre alt, hatte eine oder zwei Klassen der Volksschule übersprungen und war von den Lehrern mit der dringenden Empfehlung entlassen worden, er solle eine weiterführende Schule besuchen; das lehnte sein Vater jedoch ab. Seine Brüder Gustav (1891 bis 1953) und Paul (1895 bis 1947) waren entsprechend jünger.

*** Die Festschrift ist im Mai 1948 gedruckt worden. Verfasst hat sie vermutlich mein Großvater Adolf Runkel, damals 59 Jahre alt. Mein Vater Adolf Runkel war 28. Er hatte im Januar 1948 geheiratet, und meine Mutter Sigrid war in den ersten Schwangerschaftswochen, mit mir.

Montag, 6. Juni 2022

Im Baskenland mit einem baskischen Buch

Unsere Tochter Christina und ihre Familie haben eine längere Reise entlang der Atlantikküste von Lissabon bis Bordeaux unternommen und hatten uns eingeladen, sie in der Nähe von Bilbao für eine Woche zu besuchen. Meine gute Schwester Esther legte mir ans Herz, die Gelegenheit zu nutzen und das Buch Patria des spanischen Autors Fernando Aramburo zu lesen. 

Das habe ich mit Freude getan und bin in dem Moment mit dem Lesen fertig geworden, als wir auf dem Rückflug in Düsseldorf auf der Landebahn aufsetzten. Selten hat sich bei mir der neue Eindruck eines mir bis dahin unbekannten Landes mit dem Eindruck eines Buches so wunderbar verbunden.

 Patria erzählt die schmerzvolle aber auch lebensstarke Geschichte zweier Familien, die im Terrorkampf der baskische Nationalisten (ETA) auf unterschiedliche Seiten der Fronten geraten. 

Zentrales Ereignis ist das Attentat auf den Familienvater der einen Familie aber auch die Verhaftung und Bestrafung eines Sohnes aus der anderen Familie, der an dem Attentat beteiligt war. Um die Ermordung herum spinnt Aramburo eine weit verflochtene Geschichte von Liebe und Hass, Armut und Reichtum, Krankheit und Heilung. Dabei gehen die Gedanken und Erlebnisse der handelnden Personen immer wieder über das hinaus, was vielleicht typisch baskisch ist und erzählen eine Menschheitsgeschichte. 

Wir konnten einige der Stellen besuchen, an denen das Buch spielt, vor allen Dingen die Küstenstädte Bilbao und San Sebastian, die auf einer Küstenlinie von 130 km in etwa das Gebiet eingrenzen, das von dort landeinwärts das spanische Baskenland umschließt. Über die französische Grenze weg geht es dann noch einmal etwa 30 km bis hinauf nach Biarritz, wo die Menschen, die noch die uralte baskische Sprache verstehen, einen ähnlichen Dialekt sprechen wie die baskischen Spanier. 

Ich habe aus dem Buch eine Reihe von baskischen Wörtern gelernt, aber keinen Zugang zu der Sprache gefunden, welche die Basken selbst „Euskaldun“ nennen. Die Sprache ist mit keiner anderen Sprache auf der Welt verwandt. Ein gelehrter Freund, den ich nach den Ursprüngen des Baskischen fragte, sagte mir, dass sein Spanischlehrer im Studium, ein Baske, auch keine Antwort wusste, aber vorsichtig versuchte, eine Verwandtschaft zum Hebräischen nachzuweisen. 

Das Heimatland der Basken ist von einer erstaunlichen Schönheit. Die Autoroute entlang der Küste verläuft, ohne dass man das Meer häufig zu sehen bekommt, durch eine grüne Gebirgslandschaft, die mit ihren bis zu 2000 m hohen Bergen an manchen Stellen an die Voralpen erinnert, allerdings mit ganz anderen Gebirgsformen. Die landschaftlich reizvolle Autobahn zwischen Bilbao und der französischen Grenze läuft nie geradeaus. Man fährt in starken Kurven und kommt selten in Versuchung, die meist vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h zu übertreten. 

Von der französischen Grenze aus verlaufen verschiedene Fußwege in westliche Richtung, die den Pilgerweg nach Santiago de Compostela bilden. Der Abschnitt, der in dieser Berglandschaft verläuft, ist sicherlich mühevoller als ich mir das vorgestellt habe, belohnt den Wanderer aber mit der Begleitung grüner Wälder und saftiger Wiesen. 

Die Basken haben mit der Zentralregierung in Madrid Frieden gemacht, nachdem die ETA im Jahr 2011 ihre Waffen niedergelegt hat. Das Gebiet hat heute eine gewisse Autonomie, die Straßenschilder sind überall in Baskisch und Spanisch gehalten. 

Kathedrale in San Sebastian mit Cavaillé-Coll
-Orgel
Die Kirchen, die wir in San Sebastian und Bilbao sahen, zeugen von einer alten gediegenen Kultur, die, anders als in Deutschland, auch in den Jahren nach der Reformation prächtige neue Gebäude geschaffen hat, die an einigen Stellen noch ein wenig gotisch aussehen, aber deutliche Elemente der Renaissance haben. Der im Baskenland geborene Begründer der Jesuiten, Ignatius von Loyola, ist in den Kirchen allgegenwärtig. 

In der Kathedrale von Bilbao nahmen wir an einer Messe teil, deren Predigttext ich anhand meiner alten Lateinkenntnisse als die Verkündigung des Engels an Maria und deren Lobgesang in Lukas 1 erkennen konnte. Die große Kirche war mit vielleicht 20 Gläubigen nur sehr spärlich besetzt, wie es überhaupt im ganzen Land nirgendwo Zeichen dafür gibt, dass der Katholizismus die alte Kraft als Staatsreligion behalten konnte. 

In Patria stachelt der Dorfgeistliche die Kämpfer der ETA zu einer Fortsetzung ihres Kampfes an. Er sei gerecht und diene der Befreiung der Euskal Herria, des Baskenlandes. Das sagt der Geistliche, obwohl er sehen muss, dass rings im Lande viele unschuldige Menschen durch den ETA-Terror ihr Leben verlieren. 

Die vorsichtigen Gesten der Versöhnung, von denen das 2016, etwa fünf Jahre nach dem Ende des Terrors, erschienene Buch erzählt, sind zaghaft und scheu. Mir schien aber, dass aus den Gesten mittlerweile doch ein tragfähiger Kompromiss entstanden ist, der dem schönen Land an der Atlantikküste am Ende doch den inneren Frieden geschenkt hat, den es verdient hat. 

Küste bei St. Jean de Luz
Die Luft war an allen Tagen klar, der nahe Atlantik kühlte trotzt sonniger Mai-Tage die Temperaturen auf ein angenehmes Niveau herunter. Ich habe mich selten in meiner Haut so wohl gefühlt wie im französischen Baskenland am großen Golf von Biskaya, der nach meinem Eindruck nach Austern und Meeresfrüchten riecht.

Die fröhlichen Enkelkinder, von denen sich der sechsjährige Johann sehr mutig auf einem kleinen Surfbrett von der Brandung der großen Wellen auf den Strand treiben ließ, machten unsere Freude perfekt. Es war ein schöner Urlaub.

Donnerstag, 19. Mai 2022

Heute vor 125 Jahren wurde mein Großvater Erwin Bohle geboren

Dies ist mein Großvater Erwin Bohle aus Bergneustadt im Oberbergischen Kreis. Er wurde am 19. Mai 1897 geboren, heute vor 125 Jahren und starb am 24. April 1957, wenige Tage bevor er 60 Jahre alt geworden wäre.

Er war ein Enthusiast und steht so vor meinen Augen, wie ihn mir ein Verwandter schilderte, kurz nach dem Krieg an einer Haltestelle auf die Straßenbahn wartend "mit nichts als zwei Hosenknöpfen in der Tasche" aber strahlend und optimistisch, "als ob ihm die ganze Welt gehörte".

Sein Optimismus hatte ihn früh scheitern lassen, um 1935 herum musste sein Derschlager Ladengeschäft beim Amtsgericht Gummersbach Konkurs anmelden. Er hatte eine große Anzahl Nähmaschinen gekauft, sehr günstig, und sah vor seinem inneren Auge wie die Menschen im Oberbergischen, über unzählige von diesen Maschinen gebeugt, in häuslichem Fleiß die nebligen Täler östlich von Köln in blühende Landstriche verwandelten. Leider fanden sich kaum Käufer, und die wenigen, die man mit Ratenzahlungen zur Anschaffung einer Nähmaschine reizen konnte, blieben oft die Raten schuldig, so dass mein Opa alles in den Handel gesteckte Geld verlor.

Er hat diesen Misserfolg als Gottes Fügung angesehen und den Beruf des Baptistenpredigers angenommen, den er nebenberuflich schon lange ausübte und für den er, wie mir viele seiner Weggenossen später berichtet haben, überaus begabt war. 1938 trat er mit erneuertem Enthusiasmus seine erste Stelle an, hier in Remscheid, wo dann seine älteste Tochter meinen Vater kennenlernte und heiratete.

Ohne Erwin Bohles Enthusiasmus wäre ich also nicht, aber sein Enthusiasmus wirkt manchmal auch bitter in mir nach. Auch die Predigerlaufbahn führte meinen Großvater nicht zu dem ersehnten Ziel. Dabei hatte es nicht schlecht begonnen, seine Redegabe war über Remscheid hinaus bekannt geworden, und 1948 hatte er in Cannes sogar mit dem jungen Billy Graham zusammen gesessen, auf einer Konferenz von „Youth for Christ“. Für diese Organisation arbeitete Graham damals und auch Opa Erwin.

Sicherlich haben beide damals davon geträumt, vor großen Menschenmengen zu evangelisieren, beide hatten bereits damit begonnen und beide wussten um ihr Talent dafür. Mitte 1949 machte Graham sich mit einer eigenen Organisation selbständig und hatte gleich so viel Erfolg, dass er von einem Tag auf den anderen berühmt wurde. Den Großvater trifft Mitte 1949 der Schlag, er wird halbseitig gelähmt und betritt für den Rest seines Lebens keine Kanzel mehr. 1957 stirbt er nach langer Bettlägerigkeit.

Sein Leben gibt mir immer neue Fragen auf.


Sonntag, 20. Februar 2022

Problematische Tage in Linz am Rhein

Das nebenstehende Foto von mir fand ich beim Aufräumen alter Unterlagen. Es wurde 1963 in einem Fotoautomaten aufgenommen, da war ich 14 Jahre alt. Ich benötigte es für einen Jugendherbergs-Ausweis, in diesen wurde das Foto eingeheftet. Ich stand damals kurz vor meiner allerersten selbständigen Reise, die mich zusammen mit einem Spielkameraden aus unserem Haus mit der Eisenbahn nach Linz führen sollte, eine etwa zweistündige Reise mit Umsteigen in Solingen und Köln und Weiterfahrt über Troisdorf, Bonn-Beuel und Bad Honnef. 

Wir wollten insgesamt vier Tage bleiben, sind aber bereits nach zwei Tagen wieder zurückgekehrt. Der Grund dafür war ein Anfall von tödlicher Langeweile, der mich überfiel, nachdem ich in Linz nach einem Strandbadbesuch völlig leer und ideenlos auf dem Bett der Jugendherberge lag und nicht wusste, was ich mit der zäh dahinfließenden Zeit anfangen sollte.

Im Nachhinein denke ich, dass sich damals zum ersten Mal  meine Unfähigkeit gezeigt hat, in einer fremden Stadt zurecht zu kommen. Ich fühle mich bis heute in Städten kaum einmal wirklich wohl, kann sie nicht „lesen“, kann keine Plätze in ihnen finden, an denen man einfach stehen bleibt, die Menschen beobachtet und die Atmosphäre der Stadt ruhig auf sich wirken lässt.

Selbst in mir vertrauten Städten wie Köln oder Wuppertal finde ich keinen wirklichen Ort zum Verweilen. Ich gehe meistens schnell in ein Café oder Restaurant, hole mir eine Zeitung oder ziehe mein Handy hervor und tue das, was ich auch zu Hause tun würde. Zu Hause hätte ich allerdings größeren Komfort.

So war es also auch in Linz, wo es nach dem Besuch des Strandbads schon bald mit dem Interesse an der Stadt zu Ende war. Verschlimmert wurde die Lage noch dadurch, dass ein Zimmerkamerad – kaum älter als ich – im Strandbad ein Mädchen kennen gelernt hatte, von dem er lauthals schwärmte. „Schau Frau“, wiederholte er eins ums andere Mal ("schau" war damals ein Modewort wie heute "cool"), und ich hatte wohl eine dunkle Ahnung, wie schön es wäre, eine solche Freundin zu haben, wusste aber nicht den Weg zu ihr.

Die Erinnerung an diesen Jugendherbergs-Ausweis ist also negativ besetzt. Immerhin war ich allerdings, vor ein paar Tagen, als ich ihn wiederentdeckt hatte, doch einigermaßen erstaunt, in ein wohlgeformtes Gesicht mit schönem Haar zu blicken. Damals war noch die Zeit, in welcher der Friseur mir mit einer Handvoll Creme der Marke "Brisk" eine stabile Frisur fertigte, wodurch meine Haare aus dem Gesicht gekämmt waren und meine hohe Stirn, deren Anblick mich heute  in Erstaunen versetzt, sichtbar wurde.

Wenig später kamen mit den Beatles die Langhaarfrisuren auf, die ich lange getragen habe und bei denen die Haare ins Gesicht fielen. Man wollte freundlich und friedlich wirken. Das hörte erst sehr spät wieder auf, als die Fußballspieler damit anfingen, sich durch brutales Rasieren der Kopfseiten ein kämpferisches  Aussehen zu geben.

Heute bin ich wieder eher zur Frisur von 1963 zurückgekehrt und bin eigentlich recht zufrieden damit.

Sonntag, 13. Februar 2022

Die Flucht meines Vaters

"Flucht aus Gef(angenschaft) 1945" schreibt mein Vater in diese Kopie
der Seite vom 3. Juni der "Kleinode"

Unter den Papieren, die ich derzeit im großen Umfang aufräume, um meinen Kindern nach meinem zu erwartenden Ableben keine unnötige Arbeit zu hinterlassen, fand ich auch die abgebildete Kopie einer Seite aus „Kleinode göttlicher Verheißungen“ des Londoner Predigers Spurgeon (1834 - 1892). Das Original befindet sich praktisch in allen Ausgaben der „Kleinode“, die bis heute gedruckt werden.

Mein Vater hat eine Taschenausgabe des Buches während seiner gesamten Soldatenzeit in der Brusttasche seiner Uniform getragen und hat sie, nachdem er bei Kriegsende in der Nähe von Zerbst / Sachsen-Anhalt in russische Gefangenschaft geraten war, am 3. Juni 1945 fast wie ein Horoskop gelesen, um den Zeitpunkt seiner Flucht festzulegen. 

"Der Herr . wird meine Füße machen wie Hirschfüße", steht unter diesem Tag, und mein Vater hat das als starke Verheißung gesehen, um am 3. Juni seine Flucht anzutreten. Er ist in der Nacht zusammen mit einem Kölner Kameraden durch die hier etwa 50 m breite Elbe geschwommen, in der Erwartung, auf dem westlichen Ufer schlimmstenfalls in amerikanische Gefangenschaft zu geraten, günstigenfalls aber sich über etwa 400 km in seine Heimat Remscheid durchschlagen zu können.

Elbe bei Magdeburg

Er hat uns Kinder die Geschichte seiner Flucht häufiger erzählt. Sie war von all den Kriegsgeschichten, die er im Kopf hatte, die auch im Detail schönste.

Voraussetzung für die Flucht war das sprachliche Geschick des Vaters. Er hatte während des Russlandfeldzugs immer wieder bei Familien in den eroberten Dörfern Quartier finden können. Das ging anfangs sehr leicht, weil viele Menschen in der Ukraine und in Russland die deutsche Besatzung als Befreier vom Stalinismus ansahen. Allerdings war die Bevölkerung auf dem langen Weg zurück eher feindlich gesonnen.

Mein Vater, der sich sein Leben lang für fremde Sprachen interessiert hat, lernte bei den Ukrainern oder Russen einige Worte ihrer Sprache und war nach seiner Gefangennahme so frei, sich auf die Frage des Lagerkommandanten, wer hier russisch spreche, zu melden. Er wurde zum Lagerdolmetscher ernannt.

Die Bewegungsfreiheit, die ihm dieser Job und der entsprechende Passierschein erlaubten, hat er zur Flucht nutzen können. Er durfte sich nachts im Lager frei bewegen und auch in die Sperrzone am Ufer der Elbe gelangen.

Der Flucht vorangegangen war ein denkwürdiges Gespräch, das der Vater mit dem Lagerkommandanten, einem russischen Major, einige Tage zuvor geführt hat. Die beiden Männer standen auf einem die Elbe überblicken Hügel, und mein Vater sagte zu den Major, nach Westen weisend: dort drüben ist meine Heimat. Zum Erstaunen meines Vaters sagte der Major: wenn ich du wäre, würde ich schwimmen. Mein Vater entgegnete keck: ich werde schwimmen, und der Major antwortete ruhig: und ich werde schießen.

Genau so kam es dann auch, denn die Wachtposten am Ufer der Elbe hatten die Flüchtenden bemerkt und haben noch ein paar Schüsse auf sie abgegeben, ihr Ziel aber verfehlt.

Lang waren danach die Berichte meines Vaters über die verschlungene Wege, die ihn am Ende nach Remscheid zurückgebracht haben. Zu dem himmlischen Glück, das ihm die Verse der „Kleinode“ gebracht haben, gesellte sich noch eine ganz andere Art von irdischen, ja sogar eher schmutzigem Glück: der Kölner Kamerad Jakob erwies sich als ein gerissener Kleinkrimineller, der in brenzligen Situationen immer wieder Auswege fand, meist am Rande der Legalität. Einer geizigen Frau, welche die beiden Wanderer mit einer dünnen Suppe abgespeist hatte, stahl er die Würste aus der Speisekammer. (Hast du gesehen, was die für schöne Würste hatte? fragte mein Vater – gehabt! sagte Jakob, und zeigte die in seiner Jacke gut verwahrten gestohlenen Exemplare).

Bei einer Personalkontrolle durch amerikanische Soldaten wies Jakob sich mit einem Ausweis aus, den er einem anderen Passagier auf der Ladefläche eines LKWs gestohlen hatte. Und da der Kontrolleur eine Runde machte, bei welcher mein Vater als letzter an der Reihe war, ließ Jakob den Ausweis wie von  Zauberhand dann auch noch meinem Vater zukommen.

Ich weiß nicht, wie lange die beiden für die Reise nach Hause gebraucht haben. Sie kamen in ein durch Bomben zerstörtes Land zurück, aber sie kamen als Privilegierte. Von den beiden Brüdern meines Vaters kam der eine erst nach vielen Monaten schwerkrank aus französischer Gefangenschaft zurück, der andere war sogar in Sibirien und als mein Vater ihn im Dezember 1949 vom Bahnhof abholte, trug er sein erstes Kind bereits auf seinem Arm. Das war ich.




Ü

Freitag, 11. Februar 2022

Wwe. Emil Bohle (1857 - 1939)

 


Dies ist die Mutter aller Mütter - meine Urgroßmutter Lina Bohle. Sie sitzt für mich im großen Kreis ihrer Familie ähnlich wie die Nabe in einem Rad.

Ihr Haus in Bergneustadt, in dem sie um das Jahr 1880 ein Geschäft gegründet hat, das erst vor wenigen Jahren aufgegeben wurde, ist das Stammhaus der großen Familie meiner Mutter.

Es ist von Anfang an ein matriarchalisch geführtes Haus gewesen, nachdem der Mann meiner Urgroßmutter, der mit seinem dunklen Augen ein wenig depressiv in die Welt schauende Emil Bohle schon 1913 verstarb und es seiner Frau überließ, die Geschäfte alleine weiter zu führen. Das hat sie noch 26 Jahre getan, hat sich dabei aber mehr und mehr der Hilfe ihrer Tochter Elise bedient, die beim Tod des Vaters 18 Jahre alt war. Sie war aus ähnlich hartem Holz geschnitzt wie ihre Mutter und wurde auch nach ihrer Hochzeit mit dem Friedrich Hahne (am unteren Rand der Todesanzeige aufgeführt) landauf landab weiterhin „das Bohlen Lieschen" gerufen.

Ich habe das Lieschen in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch häufig gesehen, weil mich meine Wege in den Nachbarort Wiedenest führten, wo meine Frau aufgewachsen ist.

Als ich um das Jahr 1972 den Laden des Bohlen Lieschens betrat, sagte sie als erstes sehr bestimmt und direkt, dabei aber nicht einmal unfreundlich: "Christian, donn den Bart af!" Tu den Bart ab. Ihr gefiel mein damals in Mode stehender Bart nicht.


Lieschens Mutter, die 1939 verstorbene „Witwe Emil Bohle“ (Foto) muss eine ebenso selbstbewusste Frau gewesen sein wie ihre Tochter, denn es wurde von ihr überliefert dass sie auf die Vorhaltungen der Nachbarn, ihre mittlerweile erwachsenen Söhne würden es den Schwiegertöchtern erlauben, unter der Woche Tennis zu spielen (während die Witwe Emil Bohle noch unermüdlich im Laden arbeitete), dass sie also auf diese Vorhaltungen barsch gesagt haben soll: "Just so will ick et han".

Auf einem Familienfoto von 1903 ist sie mit ihrer Kinderschar von fünf Jungen und drei Mädchen zu sehen. Der dunkel und verschlossen wirkende Emil Bohle nimmt einen Platz relativ weit am Rand ein, während seine offenkundig alles beherrschende Frau in der Mitte thront.

Von den Söhnen haben alle das Erwachsenenalter erreicht, haben geheiratet und Kinder bekommen. Von den drei Töchtern ist die kleine Emmi mit drei Jahren gestorben, eine weitere, Maria, die in der Todesanzeige ganz oben steht, ist unverheiratet geblieben und hat im Haushalt des Bohlen Lieschens mitgeholfen. Das Bohlen Lieschen selbst hat zwei Töchter gehabt, welche den Laden weitergeführt haben. Aus ihrer Zeit besitze ich noch einen Kleiderbügel, auf dem in gerader Schrift der Name "Bohle" steht.

Der Laden muss zunächst eine Suppenküche für die Arbeiter der im Tal der Dörspe im 19. Jahrhundert schnell wachsenden Industrie gewesen sein, ergänzt um eine kleine Landwirtschaft mit Kuh (siehe Foto) und einen Kolonialwarenladen. Erst später, und das ist die Zeit, in der meine Eltern mich in den fünfziger Jahren gelegentlich mit nach Bergneustadt nahmen, hat das Bohlen Lieschen Kleidung verkauft, Von der habe ich in Erinnerung, dass darunter die für Kinder bestimmten Stricksachen der Marke "Kübler" waren.

Lieschens Töchter waren elegante Frauen und haben aus dem Kleiderladen ein nach meinem damaligen Eindruck recht attraktives Modegeschäft gemacht.

Die Söhne haben Handel getrieben, der sie weit in der Welt herum gebracht haben. Ein Enkel hat nach dem Krieg diese Geschäfte weitergeführt und durch ausgedehnte Reisen nach Asien eine, wie man heute sagen würde, Lieferkette aufgebaut, über die er Zubehör für Fahrräder importierte. Für seine Fahrradschläuche und Reifen hat er irgendwann die Marke „Schwalbe“ eingeführt, die man heute fast auf jedem zweiten Rad in Deutschland finden kann.

Die auch in der nächsten Generation sehr erfolgreiche Firma konnte es sich leisten, mit großzügigen Spenden dem namhaften Handballverein im Nachbarort Gummersbach eine Sporthalle zu ermöglichen, die heute „SCHWALBE arena“ heißt. Bei einem Familientreffen habe ich dem gegenwärtigen Schwalbe-Chef dazu gratuliert, dass durch eine glückliche Fügung in Gummersbach nicht der Fußball, sondern der Handball im Mittelpunkt steht. Eine Schwalbe ist im Fußball ja der Sturz nach einem vorgetäuschte Foul, und an eine Schwalbe–Arena wäre entsprechend im Fußball nicht zu denken.

Zwei der Söhne der Witwe Emil Bohle sind Baptistenprediger geworden, und zwar der älteste Sohn Friedrich und der vierte Sohn Erwin, mein Großvater. Beide Prediger haben die Töchter eines Berliner Baptisten namens August Lehmpfuhl geheiratet, wodurch ein wenig Berliner Blut in meine ansonsten überwiegend Bergische Ahnenreihe gekommen ist.

Aber davon später mehr.

Freitag, 14. Januar 2022

Mein Onkel Adalbert

 

Heute vor 100 Jahren wurde mein Onkel Adalbert Bohle geboren, in Bergneustadt im Oberbergischen. Von allen meinen Verwandten hat er den größten Einfluss auf mein Leben gehabt, meine Eltern vielleicht ausgenommen. Ich sage vielleicht, weil mein Onkel dem Einfluss meines Vaters, dem ich mich oft zu entziehen versucht habe, etwas entgegengesetzt hat, das weder mein Vater noch meine Mutter, Adalberts jüngere Schwester, anzubieten hatten. Es war eine weltmännische Lebenskunst, die sich im Haus meiner Eltern nicht fand, die ich aber im Haus des Onkels wie ein offenes Buch studieren konnte.

Mein Onkel liebte die klassische Musik, spielte sie selbst auf dem Klavier und zog durch die ganze Welt, um die Konzerte seines Freundes, des Dirigenten Helmuth Rilling zu hören. Die Räume im Tübinger Haus des Onkels hingen voll mit Bildern, überwiegend von Arrigo Wittler gemalt, den er als junger Mann kennengelernt hatte und dem er über viele Jahre ein treuer Kunde war. Und schließlich war da das Universum seiner vielen Bücher, in dem ich frei herumstreifen durfte, was ich gerne genutzt habe.

Ohne seine Fürsprache hätte ich dem Plan meines Vaters folgend nach der zehnten Klasse, der "mittleren Reife", eine Maurerlehre beginnen sollen. Der Onkel sorgte für das Fortkommen bis zum Abitur und später, nach der Bundeswehr, für eine Möglichkeit, in Tübingen Betriebswirtschaft zu studieren. Dort war ich drei Semester lang jeden Mittag bei ihm und seiner Frau zu Gast und konnte lernen, meine Worte und meine Tischsitten auf gutem Niveau zu halten.

Wir haben uns später nie aus den Augen verloren und haben zwischen vielen Besuchen immer wieder miteinander telefoniert, wobei ich mich vom ehrfurchtsvollen Zuhörer nach und nach zu einem halbwegs gleichberechtigten Gesprächspartner entwickelt habe. Mein größter Erfolg war, ihm gelegentlich das Lesen von Romanen näherzubringen. Er hatte zunächst fest auf der Priorität der Sachbücher bestanden.

Von ihm übernommen habe ich ich einen Zugang zu Ernst Jünger, den er ebenfalls persönlich kannte, und der 1991 an einem Abend, den ich hier im Blog beschrieben habe, in seinem Haus zu Gast war. Der Onkel kommt mehrfach hier im Blog vor, so im Beitrag zum 60ten Geburtstag meiner Schwester Esther, die ich ebenso wie den Onkel zu den Enthusiasten zähle, denen ich auch ein Kapitel meines Buches "Unter Menschen" gewidmet habe. Eine seiner Maximen zum Abhalten einer erfolgreichen Rede findet sich hier.  

Übernommen habe ich auch seine Treue zum Glauben seiner Väter. Sein eigener Vater Erwin Bohle war Baptistenprediger in Remscheid, und er selbst ist bis zum Ende seine Lebens Baptist geblieben. Er ist von dem den Baptisten herzlich zugeneigten Tübinger Theologen Eberhard Jüngel im Mai 1998 beerdigt worden. Jüngel hat am Ende aus einem Lebensrückblick zitiert, den der Onkel noch selbst verfasst hatte. Mein Onkel sprach darin vom "großen Halleluja am Ende der Tage" und schloss mit den Worten "Dieses große Halleluja wird der nächste Gesang sein, den ich hören werde, ja in den ich vielleicht miteinstimmen darf."

Eberhard Jüngel hat seine Ansprache dann mit den Worten geschlossen "So Adalbert Bohle. Ihm geschehe, wie er geglaubt hat. Amen."

Ich habe das damals mit Ergriffenheit gehört und ein lautes "Amen!" dazu gesagt.


Sonntag, 9. Januar 2022

Dankeschön



Hier möchte ich mich bei allen lieben Gratulanten bedanken, die mir zu meinem Geburtstag über das Internet Glückwünsche zugesendet haben.

Wie im Vorjahr habe ich einen einzelnen Gedanken gefunden, den ich vor ein paar Wochen gehört habe, der mich beeindruckt hat und den ich jetzt gerne als Dank weitergeben möchte.

Der amerikanische Pastor Michael Walrond (Foto), dessen Predigten aus seiner Harlemer Gemeinde ich regelmäßig höre, hat im letzten November eine Predigt unter das Motto gestellt Protect Your Peace. Beschütze deinen Frieden, 

Er hat das in vielen Kirchen gebräuchliche Segenswort aus Philipper 4,7 „der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne“ mit einer kleinen, aber sicherlich erlaubten gedanklichen Wendung dahin gebracht, dass die Bewahrung am Ende auch auf unseren ganz persönlichen Frieden bezogen wird. Dieser Friede ist ein Gut, das beschützt und bewahrt werden kann und muss.

In diesem Sinne wünsche ich allen Gratulanten, dass sie den Frieden Gottes nicht nur gewinnen, sondern ihn auch mit viel Glauben und viel Verstand bewahren, so bewahren, dass ihr Leben eine Oase des Friedens wird.

Schalom, Salam, Friede sei mit euch!