Montag, 31. Oktober 2022

Mevlüde Genç (5. Februar 1943 – 30. Oktober 2022)


Gestern ist das Oberhaupt der Familie Genç, die am 29. Mai 1993 bei dem Brandanschlag in der Unteren Wernerstraße 81 in Solingen fünf Mitglieder verloren hatte, in Solingen gestorben. Sie wurde 79 Jahre alt.

Bei dem Anschlag haben sie und ihr Mann zwei Töchter im Alter von 28 und 19 Jahren verloren, außerdem zwei Enkelkinder, neun und fünf Jahre alt, und eine zwölfjährige Nichte. Andere Mitglieder ihrer Familie wurden teilweise schwer verletzt.

Zur Verantwortung gezogen wurden vier junge Männer aus Solingen, die zum Tatzeitpunkt teilweise noch unter Jugendstrafrecht standen.

Ich erinnere mich noch gut, dass damals mit türkischen Fahnen wie gepanzert wirkende Autos durch meine Heimatstadt Remscheid in Richtung auf den Nachbarort Solingen fuhren. Ein großer grüner BMW, dessen Motorhaube ganz mit einem roten, mit Halbmond und Stern verzierten Fahnentuch bedeckt war und dessen junge Insassen finster und entschlossen in Richtung Solingen blickten, ist mir noch in besonderer Erinnerung. Ich bin selbst zwei oder drei Tage nach dem Anschlag in die Untere Wernerstraße gefahren und habe zusammen mit vielen anderen betroffenen Menschen an der Ruine gestanden.

Ich habe später erfahren, dass die besonnene und von Anfang an versöhnliche Reaktion der Familie Genç ganz stark dabei mitgeholfen hat, die damals beginnenden gewalttätigen Unruhen im Keim zu ersticken. Ich sehe noch in der Nähe des Tatortes die mit großen Holzplatten abgesicherten Schaufenster verschiedener Solinger Geschäfte vor mir. Uns allen drohte damals eine große Eskalation.

Meine eigene Reaktion sah damals so aus, dass ich eine Handvoll türkische und deutsche Geschäftsleute aus meinem Bekanntenkreis zusammengerufen und ein regelmäßiges Mittagessen in einem China-Restaurant veranstaltet habe, dessen Essen ich damals für "halal" hielt. Wir waren uns einig, dass sich solche Anschläge nicht wiederholen durften und wollten unseren persönlichen Beitrag dazu leisten.

Weder der verblendete Hass der Attentäter noch der Ruf nach Vergeltung unter dem aufgebrachten jungen Türken entsprang der Mitte der Gesellschaft, in der wir lebten. Die Mehrheit war der Überzeugung, dass Anschläge und Krawalle gleichermaßen nicht zu unseren Grundsätzen passten..

In allem hat die besonnene Reaktion besonders von Mevlüde Genç die Wogen geglättet. Türkische Freunde, die Frau Genç später besucht haben, erzählten mir von dem starken persönlichen Eindruck, den sie von dem Besuch mitgenommen haben. Mevlüde Genç wollte die überlebenden Familienmitglieder nicht mit einer ewigen Trauer belasten und außerdem das Land, in dem sie lebte und dessen Bürgerin sie wenige Jahre nach dem Attentat wurde, nicht dauerhaft mit Vorwürfen überziehen. Das Attentat hatten verirrte junge Leute begangen, halbe Kinder teilweise noch. Es war in Deutschland geschehen, es war aber dem Land nicht insgesamt anzulasten.

Mevlüde Genç hat Frieden gestiftet. Möge sie in Frieden ruhen. 

  

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