Samstag, 7. Januar 2023

Gilead


Sie singen immer noch die Evangeliumslieder vom „Alt rauhen Kreuz“ und vom „Fels des Heils geöffnet mir“, und wenn sie sich in ihrer altersmilden Weisheit über die Wege der Menschen auf dieser Erde unterhalten, so verwenden sie vielfach die Begriffe aus ihrer reformatorischen Tradition, die in ihrem Ursprung auf die Schriften Johannes Calvins zurückgehen.

Die beiden Pastoren, Presbyterianer, der eine, Kongregationalist der andere, leben in der kleinen Stadt Gilead mitten in der Prärie im amerikanischen Bundesstaat Iowa und werden in ihrem Alter jenseits der 70 von ihren Gemeindemitgliedern liebevoll betreut. Man hat ihnen versprochen, die alten Kirchengebäude, in denen sie jeweils als junge Pastoren ihren Dienst angetreten sind, erst nach ihrem Tod abzureißen und neu zu bauen. Die beiden unterscheiden sich in ihren Meinungen nur geringfügig und meistens auch nur dann, wenn es um die Politik des Präsidenten Eisenhower geht.

In die Harmonie der kleinen Stadt brechen zwei Störungen ein. Der verlorene Sohn des einen Pastors kehrt nach 20 Jahren nach Hause zurück, und die lange Witwenschaft des anderen endet, nachdem er eine junge Frau heiratet, die als etwas verwahrloste Wanderarbeiterin eines Tages vor seiner Tür steht und ihm zunächst in Haus und Garten hilft.

Die Hochzeit mit dieser Frau wird mit einem Kind gesegnet, das den bis dahin kinderlosen Pastor zu einem glücklichen Vater macht. Angesichts seiner nur noch kurzen Lebensspanne beginnt er, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben, damit der kleine Junge sie eines Tages lesen kann.

Der verlorene Sohn des anderen Pastors ist 40 Jahre alt und war von klein auf das schwarze Schaf der Familie. Nach ein paar Diebstählen und sonstige Vergehen, die ihn mit dem örtlichen Sheriff überkreuz brachten, verschwand er aus Gilead und war mit dem unglücklichen Vater nur insoweit verbunden, als dieser nie aufhörte, für den Sohn zu beten.

Als er dann zurückkam, stellte sich zur Überraschung aller heraus, dass er ein durchaus charmanter und sowohl in der Bibel, als auch in den Schriften Calvins bewanderte Mann war. Sogar die alten Evangeliumslieder wie "Wenn nach der Erde, Leid, Arbeit und Pein" konnte er auf dem Klavier begleiten. Aber seine immer wieder aufbrechende, mit Alkoholismus verbundene schlechte Art bekam er nicht in den Griff, obwohl der Aufenthalt in seiner Heimat ihm dazu helfen sollte.

An dieser Stelle füllt sich die theoretische Beschäftigung mit der Theologie Calvins überraschend mit Leben. Es stellt sich die Frage, ob dieser immer wieder in sein Unglück rennende Mann eine Chance hat, sich zu verändern. Er selbst verneint das – und argumentiert dabei letztlich mit der Prädestinationslehre von Calvin. Er ist zu dem Leben eines Kleinkriminellen prädestiniert, nimmt er an.

Nur die Wanderarbeiterin Lila, die den anderen Pastor geheiratet hat, behält die Zuversicht, dass auch
für Menschen wie ihn eine Änderung möglich ist. Aber das ist eine lange Geschichte mit langen, lebendig geführten Dialogen, für die es lohnt, dieses Buch der Amerikanerin Marilynne Robinson (geboren 1943) zu lesen. Hier im Bild steht sie neben Barack Obama, der ihre Bücher auf einer Wahlkampfreise durch Iowa für sich entdeckt hat. 

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