Dienstag, 21. Juli 2015

Gehe hin, stelle einen Wächter



Die Amerikaner lesen zur Zeit Go Set A Watchman, jedenfalls haben sie das in der vergangenen Woche erschienene Buch so millionenfach vorbestellt wie man es sonst nur von der Harry-Potter-Serie kannte. Sie haben Harper Lees 40 Millionen mal verkauften Klassiker To Kill A Mockingbird (deutsch „Wer die Nachtigall stört“) vielfach in der Schule gelesen und sind jetzt vermutlich erschüttert darüber - das wurde schon in den Vorankündigungen und Kritiken, die in den ersten Tagen herauskamen, deutlich - dass sich in diesem Buch ein klaffender Riss auftut. Er teilt die Hauptfigur des Atticus Finch einerseits in den strahlenden Gerechten aus Mockingbird, der einen zu Unrecht verfolgten Schwarzen mutig verteidigt, und andererseits in den erbärmlichen Feigling aus Watchman, der heimlich zu Treffen des Ku-Klux-Klan gegangen ist, um seine weiße Rasse als vermeintliche Herren der Südstaaten an der Macht zu erhalten.  

Donnerstag, 2. Juli 2015

Hätte Präsident Bush nach dem 11. September 2001 ebenfalls „Amazing Grace“ singen sollen?


 


Dies schreibe ich mit der Absicht, zunächst einmal meinen muslimischen Freunden näher zu erklären, was es mit dem besagten Lied Amazing Grace auf sich hat. Der amerikanische Präsident Obama hat es am vergangenen Freitag auf der Trauerfeier für die Mordopfer von Charleston am Ende seiner Rede gesungen.

Amazing grace, how sweet the sound,
That saved a wretch like me!

I once was lost, but now I am found,
Was blind, but now I see.

Ich füge weitere Strophen unten an. Das Lied hat eine einfache, aus nur fünf Tönen bestehende Melodie und spricht von dem überwältigenden Gefühl einer Rettung durch Gott. Verloren – aber nun gefunden, blind gewesen - und jetzt sehend, eine durch und durch verdorbene Existenz („a wretch“, ein Schurke) - aber jetzt gerettet.
Dieses amerikanische Lied (laut Wikipedia 1748 vom Kapitän eines Sklavenschiffs verfasst, der aus Seenot gerettet wurde und später ein Gegner der Sklaverei wurde) wird auch in deutschen Kirchen gesungen, hier aber meist sehr viel zurückhaltender als in den emotionalen schwarzen Kirchen der Vereinigten Staaten. Ein mir persönlich bekannter Wuppertaler Pfarrer* hat das Lied ins Deutsche übersetzt und mir einmal gesagt, er wundere sich immer, wenn die Deutschen solche und ähnliche Lieder in Englisch singen. Sie sind in dieser Sprache bereit, sich in sehr viel emotionaleren Worten auszudrücken als im Deutschen.
Hätte George Bush dieses Lied nach dem 11. September 2001 ebenfalls anstimmen sollen? Ein verwegener Gedanke! Es ist ja eine versöhnliche Botschaft darin, ein vollständiger Verzicht auf Rache. Obama hat gesagt, der weiße Attentäter hätte einen Rassenkrieg anstiften wollen, aber – God has different ideas – eine göttliche Vorsehung habe das genaue Gegenteil bewirkt, nämlich einen großen Aufruf zur Versöhnung zwischen den nach wie vor unter Spannung stehenden Rassen in den Vereinigten Staaten.
Nun war in Charleston im Unterschied zum Anschlag auf das World Trade Center in 2001 eine genau definierte Gruppe von Menschen betroffen: schwarze Christen, zudem sehr frommen Menschen. In der Regel haben nur die frommen unter den sonntäglichen Kirchgängern außerdem noch die Sitte, sich auch in der Woche zu einem Bibelkreis zu versammeln. Das Attentat auf diese Leute war etwa so, als habe man eine Sohbet-Veranstaltung der Hizmet-Bewegung angegriffen, einen Hauskreis, einen Gesprächskreis gleichgesinnter gläubiger Menschen.
Ganz anders als im New York von 2001 hatten nun aber die Angehörigen der Ermordeten wenige Stunden nach der Tat vor Gericht in einem bewegenden Auftritt dem Täter ins Gesicht erklärt, sie würden ihm seine Tat vergeben.


Ohne diese Vergebung wäre es nicht möglich gewesen, dass nun auch Präsident Obama von grace, von Gnade gesprochen hat.
Solche Voraussetzungen hatte Präsident Bush 2001 selbstverständlich nicht. Er musste reagieren, musste fordern. Nun hat Präsident Obama allerdings ebenfalls gefordert: er hat die rassistischen Feinde der neun Mordopfer von Charleston aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen. Er hat Worte gegen den Hass und gegen die allgemeine Bewaffnung der Bürger in den Vereinigten Staaten gefunden.
Man weiß, dass er hier sehr vorsichtig sein muss, weil es nach wie vor eine breite Grundstimmung in der Bevölkerung gibt, die das Tragen von Waffen zum freien Grundrecht aller Bürger macht.. Er hat deutliche Worte zum Einschränkung dieser Freiheit gesprochen und zu einer Annahme der erstaunlichen Gnade hinein in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.
Zum Schluss hat er die Namen der neun Mordopfer noch einmal laut ausgerufen und nach jedem Namen angefügt,  "...hat diese Gnade gefunden", ... found that grace. Er hat die ermordeten Menschen dann der Gnade anbefohlen, die sie jetzt nach Hause bringen wird . Im Lied heißt es grace will lead me home.
Und er hat am Schluss sein ganzes Land dieser Gnade anbefohlen, damit es - und hier hat er eine Pause gemacht und das folgende Wort besonders betont - Vereinigte Staaten von Amerika bleiben.
Alles das hätte Bush nicht sagen können. Aber dass es gesagt werden kann, mitten hinein in eine Welt, in der die Ungnade jeden Tag zu siegen scheint, ist ein Triumph der Hoffnung. 

Amazing grace, how sweet the sound,
That saved a wretch like me!
I once was lost, but now I am found,
Was blind, but now I see
'Twas grace that taught my heart to fear,
And grace my fears relieved;
How precious did that grace appear,
The hour I first believed!


Through many dangers, toils and snares,
I have already come;
'Twas grace that brought me safe thus far,
And grace will lead me home.



* Übertragung von Klaus Haacker:
O Wunder der Barmherzigkeit,
du Licht in meiner Nacht!
Ich war verirrt, dem Tod geweiht,
du hast mich heimgebracht. 


Die Gnade hat mich aufgeschreckt
aus falscher Sicherheit,
den Glauben dann in mir geweckt,
aus aller Angst befreit. 
In Nöten, Mühsal und Gefahr
hat Gnade mich bewahrt;
ich weiß, sie führt mich wunderbar
bis hin zur letzten Fahrt.