Dienstag, 21. Juli 2015

Gehe hin, stelle einen Wächter



Die Amerikaner lesen zur Zeit Go Set A Watchman, jedenfalls haben sie das in der vergangenen Woche erschienene Buch so millionenfach vorbestellt wie man es sonst nur von der Harry-Potter-Serie kannte. Sie haben Harper Lees 40 Millionen mal verkauften Klassiker To Kill A Mockingbird (deutsch „Wer die Nachtigall stört“) vielfach in der Schule gelesen und sind jetzt vermutlich erschüttert darüber - das wurde schon in den Vorankündigungen und Kritiken, die in den ersten Tagen herauskamen, deutlich - dass sich in diesem Buch ein klaffender Riss auftut. Er teilt die Hauptfigur des Atticus Finch einerseits in den strahlenden Gerechten aus Mockingbird, der einen zu Unrecht verfolgten Schwarzen mutig verteidigt, und andererseits in den erbärmlichen Feigling aus Watchman, der heimlich zu Treffen des Ku-Klux-Klan gegangen ist, um seine weiße Rasse als vermeintliche Herren der Südstaaten an der Macht zu erhalten.  

Ich habe Watchman ebenfalls gelesen (nachdem ich Mockingbird kurz zuvor gelesen und in diesem Blog darüber berichtet hatte) und habe mich gefragt, ob Atticus Finch, die Hauptperson beider Bücher, eine einzige Person gewesen sein kann.


Vater Amasa Lee mit Tochter Harper
Zunächst - man darf annehmen, dass Harper Lee ihren eigenen Vater, den Rechtsanwalt Amasa Coleman Lee (1880 – 1962) aus Alabama als Atticus‘ Vorbild sowohl in Mockingbird als auch in Watchman richtig abgebildet hat. Keine der beiden Versionen dürfte allzu weit vom realen Charakter des Vaters abweichen. Man muss also damit leben, dass sich hinter der liberalen Fassade des Südstaaten-Gentleman Atticus Finch (in der Verfilmung unvergleichlich nobel verkörpert durch Gregory Peck) eine zweite, dunklere Seite verbirgt, mit der sich Watchman  zentral auseinandersetzt.
Man könnte diese dunkle Seite als geistige Verwirrung einer längst vergangenen Zeit schnell wieder vergessen und das Buch als lediglich für Historiker interessant beiseite legen, wenn nicht zwei Gesichtspunkte dagegen sprächen. Zum einen hat es am 17. Juni 2015, ziemlich genau einen Monat vor Erscheinen des Buches, in den Südstaaten einen Anschlag auf eine  Methodistenkirche in Charleston, South Carolina gegeben, bei welchem der Mörder von neun schwarzen Christen sich ganz offenkundig auf eben jene weiße Theorie von der Überlegenheit der eigenen Rasse stützte, die auch Atticus Finch in Watchman vertritt.

Zum anderen gibt es - selbst wenn man annimmt, dass nur noch Verrückte daran glauben, dass die schwarze Rasse letztlich nicht in der Lage ist, ihr eigenes Schicksal in freier Selbstbestimmung in die Hand zu nehmen – eine zweite Stimme im Buch, die auch heute noch nachklingt.


Gregory Peck als Atticus (mit Mary Badham
als Jean Louise, genannt "Scout")
An einer Stelle sagt „Uncle Jack“, Dr. John Hale Finch, der Bruder von Atticus, zu dessen Tochter Jean Louise, der zentralen Mädchen- beziehungsweise Frauenfigur beider Romane, dass sich der Krieg zwischen Nord- und Südstaaten 1860 aus den gleichen Quellen gespeist hat, wie der erbitterte Widerstand der Südstaaten in den Jahren 1952 bis 1954 gegen eine vom Supreme Court aufgezwungene Gleichstellung schwarzer und weißer Schüler. Er sagt dabei aber noch etwas Drittes.
What was incidental to the issue of our War Between the States is incidental to the issue in the war we're in now and is incidental to the issue in your own private war.
„In deinem eigenen privaten Krieg“ – die Quellen der endlosen Auseinandersetzungen beziehen sich in den Worten des Onkels nicht nur auf einen politischen Kampf, sondern auf eine ganz persönliche Entscheidung, welche das Leben von Jean Louise bestimmen wird.

Diese persönliche Ebene öffnet den Blick in eine andere Welt, die Welt einer jungen Frau, die frei sein will, aber auf eine spezielle amerikanische Weise. Der Onkel sagt es so: “Was Amerika immer noch einzigartig macht in dieser müden Welt, ist, dass ein Mensch so weit gehen kann, wie ihn sein Verstand bringt, oder dass er zur Hölle gehen kann, wenn er nur will. Aber so wird es nicht mehr lange sein.“
The only thing in America that is still unique in this tired world is that a man can go as far as his brains will take him or he can go to hell if he wants to, but it won't be that way much longer.


Harper Lee
Die Freiheit, die der Onkel letztlich auch für Jean Louise einfordert,  ist verwurzelt in der agrarischen, manchmal fast aristokratisch zu nennenden Gesinnung der Südstaaten. Sie wurzelt letztlich, auch davon erzählt der Onkel, in alten englischen Vorbildern eines freien ländlichen Adels. Dieser Adel will auf bäuerlich sture Weise selbstbestimmt sein. Er ist im Kern nicht rassistisch, er ist auch nicht dem Fortschritt gegenüber verschlossen, er ist nur auf vorsichtige Art und Weise konservativ  und ist entschlossen, die vielfältigen Facetten einer ländlichen Gemeinschaft bewusst zu erhalten.
Ein sehr kluger Artikel im „New Yorker“ hat diesen agrarischen Hintergrund beleuchtet und ihn vorsichtig in ein nicht gänzlich unsympathisches Licht gestellt. Die Landbesitzer der Südstaaten haben durchaus gleiche Rechte für alle Hautfarben anerkannt, sich aber vor den radikalen Veränderungen gefürchtet, die entstehen würden, wenn die in sich verflochtenen und strukturierten Bevölkerungsteile unterschiedslos in einem größeren, gesichtslosen Gemeinwesen aufgehen würden.

Diese Furcht hat sich als grundlos erwiesen. Zerstört worden ist das ländliche Leben nicht durch die Bürgerrechtsbewegung und die Emanzipation der Schwarzen, sondern durch die vom Norden vordringende Kommerzialisierung aller Lebensbereiche. Für den Autor des „New Yorker“ ist der große WalMart in Harper Lees Geburtsort, der 6000-Seelen-Gemeinde Monroeville, Alabama (Vorbild für das Maycomb der beiden Bücher) das Ende der Südstaaten in der Form, für die Atticus Finch eingetreten ist.
Wie immer die Amerikaner die beiden Hälften des Atticus Finch wieder zusammensetzen werden, es entsteht ein größeres, reiches Bild des alten bäuerlichen Südens, der in Mockingbird noch einmal als Kinderparadies ersteht, um dann für immer zu sterben.

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