Die Amerikaner lesen zur Zeit Go Set A Watchman, jedenfalls haben sie das in der vergangenen Woche erschienene Buch so millionenfach vorbestellt wie man es sonst nur von der Harry-Potter-Serie kannte. Sie haben Harper Lees 40 Millionen mal verkauften Klassiker To Kill A Mockingbird (deutsch „Wer die Nachtigall stört“) vielfach in der Schule gelesen und sind jetzt vermutlich erschüttert darüber - das wurde schon in den Vorankündigungen und Kritiken, die in den ersten Tagen herauskamen, deutlich - dass sich in diesem Buch ein klaffender Riss auftut. Er teilt die Hauptfigur des Atticus Finch einerseits in den strahlenden Gerechten aus Mockingbird, der einen zu Unrecht verfolgten Schwarzen mutig verteidigt, und andererseits in den erbärmlichen Feigling aus Watchman, der heimlich zu Treffen des Ku-Klux-Klan gegangen ist, um seine weiße Rasse als vermeintliche Herren der Südstaaten an der Macht zu erhalten.
Ich habe Watchman ebenfalls gelesen (nachdem ich Mockingbird kurz zuvor gelesen und in diesem Blog darüber berichtet hatte) und habe mich gefragt, ob Atticus Finch, die Hauptperson beider Bücher, eine einzige Person gewesen sein kann.
Vater Amasa Lee mit Tochter Harper |
Zum anderen gibt es - selbst wenn man annimmt, dass nur noch Verrückte daran glauben, dass die schwarze Rasse letztlich nicht in der Lage ist, ihr eigenes Schicksal in freier Selbstbestimmung in die Hand zu nehmen – eine zweite Stimme im Buch, die auch heute noch nachklingt.
Gregory Peck als Atticus (mit Mary Badham als Jean Louise, genannt "Scout") |
An einer
Stelle sagt „Uncle Jack“, Dr. John Hale Finch, der Bruder von Atticus, zu dessen
Tochter Jean Louise, der zentralen Mädchen- beziehungsweise Frauenfigur beider
Romane, dass sich der Krieg zwischen Nord- und Südstaaten 1860 aus den gleichen
Quellen gespeist hat, wie der erbitterte Widerstand der Südstaaten in den
Jahren 1952 bis 1954 gegen eine vom Supreme Court aufgezwungene Gleichstellung
schwarzer und weißer Schüler. Er sagt dabei aber noch etwas Drittes.
What was incidental to the issue of our War Between
the States is incidental to the issue in the war we're in now and is
incidental to the issue in your own private war.
„In deinem eigenen privaten Krieg“ – die Quellen der endlosen
Auseinandersetzungen beziehen sich in den Worten des Onkels nicht nur auf einen
politischen Kampf, sondern auf eine ganz persönliche Entscheidung, welche das Leben von Jean Louise bestimmen wird.
Diese persönliche
Ebene öffnet den Blick in eine andere Welt, die Welt einer jungen Frau, die frei sein will, aber auf
eine spezielle amerikanische Weise. Der Onkel sagt es so: “Was Amerika
immer noch einzigartig macht in dieser müden Welt, ist, dass ein Mensch so weit
gehen kann, wie ihn sein Verstand bringt, oder dass er zur Hölle gehen kann,
wenn er nur will. Aber so wird es nicht mehr lange sein.“
The only thing in America that is still unique in
this tired world is that a man can go as far as his brains will take him or he
can go to hell if he wants to, but it won't be that way much longer.
Harper Lee |
Die Freiheit,
die der Onkel letztlich auch für Jean Louise einfordert, ist verwurzelt in der agrarischen, manchmal
fast aristokratisch zu nennenden Gesinnung der Südstaaten. Sie wurzelt letztlich,
auch davon erzählt der Onkel, in alten englischen Vorbildern eines freien ländlichen
Adels. Dieser Adel will auf bäuerlich sture Weise selbstbestimmt sein. Er ist im Kern
nicht rassistisch, er ist auch nicht dem Fortschritt gegenüber verschlossen, er
ist nur auf vorsichtige Art und Weise konservativ und ist entschlossen, die vielfältigen Facetten
einer ländlichen Gemeinschaft bewusst zu erhalten.
Ein sehr
kluger Artikel
im „New Yorker“ hat diesen agrarischen Hintergrund beleuchtet und ihn vorsichtig
in ein nicht gänzlich unsympathisches Licht gestellt. Die Landbesitzer der
Südstaaten haben durchaus gleiche Rechte für alle Hautfarben anerkannt, sich
aber vor den radikalen Veränderungen gefürchtet, die entstehen würden, wenn die
in sich verflochtenen und strukturierten Bevölkerungsteile unterschiedslos in
einem größeren, gesichtslosen Gemeinwesen aufgehen würden.
Diese Furcht
hat sich als grundlos erwiesen. Zerstört worden ist das ländliche Leben nicht
durch die Bürgerrechtsbewegung und die Emanzipation der Schwarzen, sondern
durch die vom Norden vordringende Kommerzialisierung aller Lebensbereiche. Für
den Autor des „New Yorker“ ist der große WalMart in Harper Lees Geburtsort, der 6000-Seelen-Gemeinde Monroeville,
Alabama (Vorbild für das Maycomb der beiden Bücher) das Ende der Südstaaten in
der Form, für die Atticus Finch eingetreten ist.
Wie immer
die Amerikaner die beiden Hälften des Atticus Finch wieder zusammensetzen
werden, es entsteht ein größeres, reiches Bild des alten bäuerlichen Südens, der
in Mockingbird noch einmal als Kinderparadies ersteht, um dann für immer zu
sterben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen