Sonntag, 13. Februar 2022

Die Flucht meines Vaters

"Flucht aus Gef(angenschaft) 1945" schreibt mein Vater in diese Kopie
der Seite vom 3. Juni der "Kleinode"

Unter den Papieren, die ich derzeit im großen Umfang aufräume, um meinen Kindern nach meinem zu erwartenden Ableben keine unnötige Arbeit zu hinterlassen, fand ich auch die abgebildete Kopie einer Seite aus „Kleinode göttlicher Verheißungen“ des Londoner Predigers Spurgeon (1834 - 1892). Das Original befindet sich praktisch in allen Ausgaben der „Kleinode“, die bis heute gedruckt werden.

Mein Vater hat eine Taschenausgabe des Buches während seiner gesamten Soldatenzeit in der Brusttasche seiner Uniform getragen und hat sie, nachdem er bei Kriegsende in der Nähe von Zerbst / Sachsen-Anhalt in russische Gefangenschaft geraten war, am 3. Juni 1945 fast wie ein Horoskop gelesen, um den Zeitpunkt seiner Flucht festzulegen. 

"Der Herr . wird meine Füße machen wie Hirschfüße", steht unter diesem Tag, und mein Vater hat das als starke Verheißung gesehen, um am 3. Juni seine Flucht anzutreten. Er ist in der Nacht zusammen mit einem Kölner Kameraden durch die hier etwa 50 m breite Elbe geschwommen, in der Erwartung, auf dem westlichen Ufer schlimmstenfalls in amerikanische Gefangenschaft zu geraten, günstigenfalls aber sich über etwa 400 km in seine Heimat Remscheid durchschlagen zu können.

Elbe bei Magdeburg

Er hat uns Kinder die Geschichte seiner Flucht häufiger erzählt. Sie war von all den Kriegsgeschichten, die er im Kopf hatte, die auch im Detail schönste.

Voraussetzung für die Flucht war das sprachliche Geschick des Vaters. Er hatte während des Russlandfeldzugs immer wieder bei Familien in den eroberten Dörfern Quartier finden können. Das ging anfangs sehr leicht, weil viele Menschen in der Ukraine und in Russland die deutsche Besatzung als Befreier vom Stalinismus ansahen. Allerdings war die Bevölkerung auf dem langen Weg zurück eher feindlich gesonnen.

Mein Vater, der sich sein Leben lang für fremde Sprachen interessiert hat, lernte bei den Ukrainern oder Russen einige Worte ihrer Sprache und war nach seiner Gefangennahme so frei, sich auf die Frage des Lagerkommandanten, wer hier russisch spreche, zu melden. Er wurde zum Lagerdolmetscher ernannt.

Die Bewegungsfreiheit, die ihm dieser Job und der entsprechende Passierschein erlaubten, hat er zur Flucht nutzen können. Er durfte sich nachts im Lager frei bewegen und auch in die Sperrzone am Ufer der Elbe gelangen.

Der Flucht vorangegangen war ein denkwürdiges Gespräch, das der Vater mit dem Lagerkommandanten, einem russischen Major, einige Tage zuvor geführt hat. Die beiden Männer standen auf einem die Elbe überblicken Hügel, und mein Vater sagte zu den Major, nach Westen weisend: dort drüben ist meine Heimat. Zum Erstaunen meines Vaters sagte der Major: wenn ich du wäre, würde ich schwimmen. Mein Vater entgegnete keck: ich werde schwimmen, und der Major antwortete ruhig: und ich werde schießen.

Genau so kam es dann auch, denn die Wachtposten am Ufer der Elbe hatten die Flüchtenden bemerkt und haben noch ein paar Schüsse auf sie abgegeben, ihr Ziel aber verfehlt.

Lang waren danach die Berichte meines Vaters über die verschlungene Wege, die ihn am Ende nach Remscheid zurückgebracht haben. Zu dem himmlischen Glück, das ihm die Verse der „Kleinode“ gebracht haben, gesellte sich noch eine ganz andere Art von irdischen, ja sogar eher schmutzigem Glück: der Kölner Kamerad Jakob erwies sich als ein gerissener Kleinkrimineller, der in brenzligen Situationen immer wieder Auswege fand, meist am Rande der Legalität. Einer geizigen Frau, welche die beiden Wanderer mit einer dünnen Suppe abgespeist hatte, stahl er die Würste aus der Speisekammer. (Hast du gesehen, was die für schöne Würste hatte? fragte mein Vater – gehabt! sagte Jakob, und zeigte die in seiner Jacke gut verwahrten gestohlenen Exemplare).

Bei einer Personalkontrolle durch amerikanische Soldaten wies Jakob sich mit einem Ausweis aus, den er einem anderen Passagier auf der Ladefläche eines LKWs gestohlen hatte. Und da der Kontrolleur eine Runde machte, bei welcher mein Vater als letzter an der Reihe war, ließ Jakob den Ausweis wie von  Zauberhand dann auch noch meinem Vater zukommen.

Ich weiß nicht, wie lange die beiden für die Reise nach Hause gebraucht haben. Sie kamen in ein durch Bomben zerstörtes Land zurück, aber sie kamen als Privilegierte. Von den beiden Brüdern meines Vaters kam der eine erst nach vielen Monaten schwerkrank aus französischer Gefangenschaft zurück, der andere war sogar in Sibirien und als mein Vater ihn im Dezember 1949 vom Bahnhof abholte, trug er sein erstes Kind bereits auf seinem Arm. Das war ich.




Ü

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