Freitag, 25. Februar 2011

Eins gegen Zwei




Vor einigen Wochen ist im Internet ein Bericht über die Doktorarbeit des türkischen Außenministers Ahmet Davutoğlu (Bild) erschienen. Davutoğlu gilt als der Chefdenker der türkischen Regierung. Sein Buch Stratejik Derinlik (Strategische Tiefe) mit der darin entwickelten These, die Türkei könne und solle mit allen ihren Nachbarn auf der Basis einer sogenannten Null-Problem-Politik leben, ist das Standardwerk der türkischen Außenpolitik und wird von Erdogan und Davutoğlu Schritt für Schritt umgesetzt.

In seiner Doktorarbeit ist er auf die Grundzüge eines im Islam verwurzelten Staatswesens eingegangen und hat sie mit dem Begriff des Tauhid verbunden. Dieses Wort stammt aus dem Koran und bezeichnet die Einheit Gottes, sein Eins-Sein (tauhid ist aus dem arabischen Wortstamm für eins gebildet). Davutoğlu stellt die Forderung auf, dass auch alle Bewegungen eines modernen, von Muslimen geprägten Staates letztlich auf diese Einheit Gottes Bezug nehmen müssen.

Im Koran bezeichnet Tauhid den vielleicht stärksten Reformimpuls des Propheten. Er richtet sich sowohl gegen die Christen, denen Mohammed vorwarf, sie bevölkerten ihren Himmel mit viel zu vielen Personen, als auch gegen die Juden, über die er urteilte, sie seien übermäßig mit dem Streit über unterschiedliche Lehrmeinungen beschäftigt. Das Gegenmittel gegen beide Übel ist für Mohammed die Konzentration auf das Eins-Sein Gottes.

Die stärkste Wirkung des Tauhid entfaltete sich dann später als Impuls nach innen, indem aus den unorganisierten Stämmen der Arabischen Halbinsel eine schlagkräftige Einheit geformt wurde, welche recht bald die Welt veränderte.

Meine Begegnung mit frommen Muslimen in den letzten Jahren hat mir die Bedeutung dieses Eins-Seins als Lebensprinzip in starkem Maße vor Augen geführt. Es erscheint mir wichtig zu sein, dass in ihrem Denken letztlich alle Gruppen der Gesellschaft von dem Gedanken an eine große, hinter allen Dingen stehende Einheit geprägt sein sollen. Das fängt bei der Großfamilie an und endet zunächst beim Staat, für viele Muslime aber eigentlich erst bei der weltumspannenden Gemeinschaft aller Gläubigen, der Umma. Daß sie derzeit keine Einheit bildet, wird von vielen Muslimen als Schmerz empfunden. Man erinnert sich mit Sehnsucht an die Zeiten, in welchen der Sultan in Istanbul gleichzeitig der Kalif aller Muslime war, also salopp gesagt deren Papst.

Ich kenne viele Muslime, welche die demokratischen Freiheiten der westlichen Gesellschaften in vollkommen gleicher Weise genießen und unterstützen wie ich. Die meisten davon würden aber wohl eher zögern, wenn man ihnen auch ein Bekenntnis zum freien Spiel der Kräfte abverlangen würde, welches nach unserem Verständnis die Grundlage dieser Freiheiten bildet. Dass eine übermäßig stark nach links tendierende Kraft zusammen mit einer übermäßig stark nach rechts tendierenden Kraft eine Balance bildet, die in der Mitte Raum für bürgerliche Freiheiten schafft, das passt nach meinem Eindruck nicht in das muslimische Denken.

Dass in ähnlicher Weise auch eine Trenung von Staat und Kirche eine solche dialektische Balance entstehen läßt, ist ihnen kaum zu vermitteln und erscheint ihnen als Fehler und Schwächung des Westens. Muslime würden im Gegenteil eher fordern, dass die Balance durch eine Rückbesinnung auf die Verantwortung vor Gott erzeugt wird. Wenn man sich auf diese Verantwortung einigen kann, sind Meinungsverschiedenheiten auch größerer Art erlaubt und für das Finden von Lösungswegen nützlich. Aber alle Unterschiede müssen sich letztlich auf eine gemeinsamen Basis beziehen lassen.

Nun ist überall die Forderung der modernen westlichen Gesellschaften zu hören, der Islam müsse sich jetzt ebenfalls der Aufklärung unterziehen und ein dialektisches Verständnis von Wahrheit und gesellschaftlicher Ordnung entwickeln. Dies passt nicht zu der muslimischen, auf die Einheit ausgerichteteten Denkart und tut meines Erachtens den vielen gutwilligen Muslimen Gewalt an, welche die Freiheit der westlichen Gesellschaften bejahen, sie aber anders begründen würden als wir.

Nach meinem Eindruck wird sich, wenn man die Fragen offen lässt, die sich hier stellen, eine interessante Spannung an der Grenzlinie zweier großer Systeme ergeben, die durchaus fruchtbar sein kann. Es ist das Spiel "Eins gegen Zwei", bei dem die Muslime für die Eins stehen und die aufgeklärten Christen für die Zwei.

Indem es von Anfang an von zwei Parteien gespielt wird, haben die aufgeklärten Christen einen kaum einholbaren Vorteil. Sie sollten ihn nutzen, um in großer Geduld auf die Gegenpartei zu hören und vielleicht von ihr zu erfahren, was sie für ihre eigene Staatstheorie an positiven Gesichtspunkten anführen und in unsere westliche Realität einbringen kann.

So eigenartig das klingen mag, die ältere, von den Muslimen bewahrte Idee von der Einheit Gottes und der Einheit der Welt könnte das von vielen Menschen geforderte, die Aufklärung überwindende neue Denken der Postmoderne durchaus auch befördern. Die Vorstellung von einer prästabilen Einheit ist ja in gewisser Weise als ein Rest auch in unserem aufgeklärten Zweier-Denken enthalten, als eine Sehnsucht, auch als ein Ziel und ein Ende der Geschichte, so wie Hegel es für den Tag vorausgesehen hat, an dem das historische Spiel von These und Antithese sich in einer vollkommenen Synthese auflöst.

Der Amerikaner Francis Fukuyama (Bild) hat 1989 in seinem vielgeschmähten Artikel "The End of History" eine solche Hegel-Idylle entworfen. Er hat sie sogar halbwegs gefunden, nämlich in dem jetzt nach und nach auf die Bühne der Geschichte tretenden universal homogenous state der westlichen Gesellschaften, vornehmlich der Europäischen Union. So, wie Fukuyma diesen Staat beschreibt - marktwirtschaftlich, offen, die Menschen mit dem versorgend, was state of the art ist, außerdem gegenüber den anderen Staaten friedliebend - wird er ganz offenkundig von den mutigen jungen Leuten angestrebt, die in diesen Tagen in den nordafrikanischen Ländern auf die Straße gehen.

Nun sind sie aber auch gleichzeitig Muslime mit einem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Verständnis für Tauhid. Ob sie Ideen entwickeln werden für einen Staat, der ganz alte und ganz neue Ideen miteinander verbindet? Es wäre das Beste, was man der Welt wünschen könnte, wenn dies gelänge.





Samstag, 5. Februar 2011

In gleicher Weise zur Liebe fähig wie wir




In den Büchern von Colm Tóibín gibt es immer wieder den Blick von der Steilküste südlich von Dublin hinunter auf die Weite der Irischen See. Auch die für mich schönste Stelle der neu erschienenen Sammlung von Erzählungen The Empty Family beschreibt einen solchen Blick und führt an dieser Stelle auch zum Titel des Buches.

Der Ich-Erzähler hat während eines längeren Aufenthaltes in Kalifornien ein leeres Haus in Ballyconnigar an der irischen Küste gekauft und nach und nach mit Einrichtungsgegenständen ausgestattet, die er per Post in das Haus schickte. Nun kehrt er zurück und nimmt das alles zögernd in Besitz.

Einer seiner Nachbarn lädt ihn ein und zeigt ihm ein Teleskop, mit dem er die Küste und die See beobachtet. Der Blick durch dieses Fernrohr beeindruckt ihn so sehr, daß er beschließt, selbst ein solches Instrument in seinem Haus aufzustellen.

Die Szene bei Bill, seinem Nachbarn beschreibt die Wellen am Horizont, die er durch das Teleskop ganz nahe für sich heranholt. Meine Übersetzung gibt den Eindruck des Originals nur ungenügend wieder, ich füge es deshalb unten an.

Der Anblick der Wellen meileinweit draußen, ihre bemühte, hektische Einsamkeit, ihre stumpfe Gleichmut gegenüber ihrem Schicksal, weckte in mir den Wunsch zu weinen und Bill zu fragen, ob er mich für einige Zeit allein lassen könnte, um die Bilder in mich aufzunehmen. Ich hörte ihn hinter mir atmen. Es wurde mir in diesem Moment klar, daß das Meer kein Muster ist, sondern ein Kampf. Nichts zählt gegen dieses Faktum. Die Wellen waren wie Menschen, die sich da draußen bekriegten, voller Bewußtsein und Wille und Schicksal und voll von einem beständigen Gefühl ihrer eigenen Schönheit.

[…] Es gab einen Charakter von Weiß und Grau und eine Art von Blau und Grün. Es gab eine Linie. Sie verwarf sich nicht, stand aber auch nicht still. Alles war Bewegung, war verschüttete Flüssigkeit, aber es war auch reines Einschließen und Enthalten, zutiefst konzentriert, gerade so wie ich, der ich dem zusah. Es hatte einen elementaren Zugriff, es war etwas, das mit einem Willen auf uns zukam, als wolle es uns retten, aber dann tat es nichts, es zog sich mit einer achselzuckenden Ironie zurück, als wollte es andeuten, daß genau dies es ist, was die Welt ausmacht, und daß unsere Zeit darin, mit aller erhabenen Möglichkeit, mit aller Komplexität und drängenden Leidenschaft, in nichts endet, auf einen kleinen Strand, und dann zurückgeht um sich wieder mit der leeren Familie zu vereinigen, von der wir auf uns gestellt aufgebrochen waren, in einem starken Ausbruch von mutiger, nichts wissender Energie.

Ich lächelte für einen Moment, bevor ich mich herumdrehte. Ich hätte ihm sagen können, daß die Welle, die ich beobachtet hatte, in gleicher Weise zur Liebe fähig ist, wie wir es in unserem Leben sind.


Später erzählt Tóibín (Foto), den man hinter dem Ich-Erzähler unschwer erkennen kann, von seiner Lehrtätigkeit und seinem mit Büchern verbrachten Leben. Er ist unsicher darüber, ob er das Leben auf der Steilküste angesichts der jenseits aller Sprache existierenden Meereswildnis gegen das frühere Leben eintauschen kann.

Die Geschichte schließt mit dem starken Gegensatz zwischen der Beobachtung des reichen Chaos auf dem Meer und den erst viel später anzusiedelnden Worten, die erst einmal zum Schweigen gebracht werden müssen.

Ich träumte davon, das Teleskop hier draußen aufzustellen, vor mir, wo ich jetzt sitze, auf das Stativ, das ich ebenfalls bestellen würde, und dann langsam damit zu beginnen, mich auf eine sich kräuselnde Linie aus Wasser zu konzentrieren, einem Stück der Welt, die der Tatsache gleichgültig gegenübersteht, daß es Sprache gibt, daß es Namen gibt, um die Dinge zu beschreiben, und Grammatik und Wörter. Mein Auge, einsam, mit seiner eigenen Geschichte gefüllt, ist verzweifelt bemüht, zu entkommen, zu löschen, zu vergessen; es beobachtet jetzt, beobachtet scharf, wie ein Wissenschaftler, der auf der Suche nach einer Heilmethode ist, es entscheidet sich, für einige Tage alles über Worte zu vergessen, endlich zu wissen, daß die Worte für Farben, für das Blau-Grau-Grün des Meeres, das Weiß der Wellen sich nicht gegen die Fülle der Beobachtung des reichen Chaos stellen, das sie hervorbringen und tragen.


Das Original:

The sight of the waves miles out, their dutiful and frenetic solitude, their dull indifference to their fate, made me want to cry out, made me want to ask him if he could leave me alone for some time to take this in. I could hear him breathing behind me. It came to me then that the sea is not a pattern, it is a struggle. Nothing matters against the fact of this. The waves were like people battling out there, full of consciousness and will and destiny and an abiding sense of their own beauty.

[…] There was a whiteness and greyness in it and a sort of blue and green. It was a line. It did not toss, nor did it stay still. It was all movement, all spillage, but it was pure containment as well, utterly focused just as I was watching it. It had an elemental hold; it was something coming towards us as though to save us but it did nothing instead, it withdrew in a shrugging irony, as if to suggest that this is what the world is, and our time in it, all lifted possibility, all complexity and rushing fervour, to end in nothing on a small strand, and go back out to rejoin the empty family from whom we had set out alone with such a burst of brave unknowing energy.

I smiled for a moment before I turned. I could have told him that the wave I had watched was as capable of love as we are in our lives.


I dreamt of setting it up out here in front of where I am sitting now, on the tripod that I would have ordered too, and starting, taking my time, to focus on a curling line of water, a piece of the world indifferent to the fact that there is language, that there are names to describe things, and grammar and words. My eye, solitary, filled with its own history, is desperate to evade, erase, forget; it is watching now, watching fiercely, like a scientist looking for a cure, deciding for some days to forget about words, to know at last that the words for colours, the blue-grey-green of the sea, the whiteness of the waves, will not work against the fullness of watching the rich chaos they yield and carry