Donnerstag, 24. Dezember 2020

Doppelter Trost

Das kleine Stück "Tröstliche Kindheit", das der Dichter Reinhold Schneider 1955 in seinem Sammelband "Weihnachtsgabe" aufgeschrieben hat, enthält einen zweifachen Trost.

Es verschweigt nicht das uns umgebende Dunkel. Es steigert es sogar noch, indem es uns "an den entsetzlichsten Schmerzen, den furchtbarsten Bildern vorüber" führen und uns auf einen Weg bringen will. Dieser Weg führt zum Kern der tröstlichen Rede, nämlich zur Erinnerung an unsere Kindheit, dem "Besten und Reinsten aus unserem Leben", zu dem wir zurückgehen dürfen. 

Und dann offenbart es uns als zweites eine verschlungene Wahrheit, die besagt, dass der Trost selbst dann wahr und wirksam ist, wenn der Urgrund des Trostes "in Wahrheit das nicht gewesen" ist, als was er uns heute erscheint.

Das aus der Erinnerung leuchtende Licht ist mehr als die Erinnerung selbst. Es ist "der Strahl aus einer anderen Welt". Wenn wir diesem Licht nachgehen, werden wir sehen, dass "es dieselbe Kraft hat wie einst, wenn es nur in uns zu leben beginnt".


Hier die Worte von Reinhold Schneider:

„Wunderbares Dunkel dieser Tage! Wenn der Nebel die Fenster umdüstert, die Bäume wie Schatten in ihm stehen und die Sonne unsichtbar bleibt und die Vögel draußen sich nur noch ganz leise melden wie aus einem anderen Reich, dann muß es doch gelingen, an den entsetzlichsten Schmerzen, den furchtbarsten Bildern vorüber einen Weg in die Kindheit zu finden. Die Erinnerung soll keine Flucht sein, kein Untergehen in der Trauer um Unwiederbringliches; aber wir bedürfen des Besten und Reinsten aus unserem Leben, wenn wir der Zeit nicht erliegen sollen. Wir müssen in die Tiefe der Vergangenheit hinab, wo wir einmal reines Wasser schöpfen durften; es wird uns wieder erquicken. Wahrscheinlich ist die Zeit der Kindheit in Wahrheit das nicht gewesen, als was sie uns heute erscheint; aber etwas ist unbezweifelbar geblieben als das Licht vom Lichte, der Strahl aus einer anderen Welt: es ist das Licht des Weihnachtstages; könnten wir es wieder empfangen, so würden wir auch erfahren, daß es dieselbe Kraft hat wie einst, wenn es nur in uns zu leben beginnt. Vielleicht ist es das Beste, was uns in Menschen begegnet ist.“

(Reinhold Schneider, 1903 - 1958)