Parallelwelten existieren oft so, dass sie zwar eng mit
unserer täglichen Lebenswelt verwoben sind, von uns aber praktisch niemals
wahrgenommen werden. In der Zauberwelt von Harry Potter ist es die Parallelwelt
der Hogwartschule. Zu ihr führt ein geheimer Zugang, der Bahnsteig 9¾ im
Londoner Bahnhof King’s Cross. In unseren Städten ist es ganz ähnlich, man muss
hier nur in bestimmte Straßen gehen, an bestimmten Türen klopfen und wird dann
in der Regel von einer Gruppe junger Männer oder auch von einem Ehepaar mit
Kindern begrüßt werden, die in einer spartanischen Einrichtung aber in
reinlichen Verhältnissen ihr Leben führen.
Es sind Flüchtlinge. Sie sprechen nicht unsere Sprache, sind
gesetzlich daran gehindert, an unserem Arbeitsleben teilzunehmen, wissen aber
über das Internet, an das jeder einzelne angeschlossen ist, das allermeiste
über unser Leben. Es ist ihnen nicht fremd, sie sind mit dem festen Willen
gekommen, es mit uns zu teilen.
Solange sie allerdings noch keinen Zugang zu unserer
Arbeits- und Sprachwelt haben, leben sie getrennt von uns in einem
Paralleluniversum, zu dem der normale Bürger keinen Zugang hat. Er erfährt zwar
über das Fernsehen etwas davon, bekommt aber die Bilder aus der realen
Alltagswelt kaum mit, weil sich in die Welt der kleinen Wohnungen mit den
vielen Menschen darin kaum je mal einer von der Presse verirrt.
Nun wird diese Welt allerdings von einer zweiten Art von
Menschen bevölkert, Menschen, die ebenfalls unbekannt und versteckt leben. Es
sind die freiwilligen Helfer, die sich den Flüchtlingen zuwenden. Sie
organisieren Sprachunterricht, Versorgung mit gebrauchten Kleidern und
Möbelstücken, Kinderbetreuung, Arzt- und Behördenbesuche und vieles andere
mehr. Eigenartigerweise wissen auch diese Helfer oft sehr wenig über dieses
Paralleluniversum, in dem sich Hilfesuchende und Helfer begegnen. Das mag daran
liegen, dass niemand von ihnen mit seiner Leistung groß hervortreten will. Und
so kommt es dann nur eher zufällig zu Begegnungen, wo der eine sagt „Ich muss
gleich Sprachunterricht geben“ und der andere sagt „und ich gehe in der
Kleiderkammer aushelfen.“ Und beide sind erst überrascht und dann froh, einen
versprengten Kameraden im großen Krieg der Barmherzigkeit gefunden zu haben.
Ich habe nach den ersten zögerlichen Schritten in das Land,
in dem man solche Begegnungen machen kann, gefunden, dass es voller Wunder ist.
Ich habe ihm den Namen „Refugistan“ gegeben, um darin den Zauber ein wenig
einzufangen, Refugistan, das Land der Refugees. Ein Teil des Zaubers entsteht
durch die immer wieder verblüffende Erkenntnis, wie groß dieses Land ist und
wie viel Hilfe in ihm möglich ist. Mir ging es z.B. so: ein pensionierter
Studienrat, bekannt mit der Freundin, die in der Kleiderkammer hilft, kennt
einen Dritten, der „eine Sportgruppe für Flüchtlinge aufmachen will“, wie mir
gesagt wird. Von dem wiederum bekomme ich auf meine Kontakt-Mail hin einen
Flyer, in dem die Sportangebote fast aller Vereine meiner Heimatstadt
aufgeführt sind – mehr als 70 an der Zahl!
In der Kleiderkammer beginnt noch eine weitere Spur, hin zu
einer sozialen Organisation wenige Häuser weiter. Da bekommt die Gruppe junger
Iraner, an deren Wohnungstür ich vor ein paar Wochen vorsichtig angeklopft
habe, stehenden Fußes die Zusage, Deutschunterricht zu erhalten. Eine solche
Zusage ist eine Goldader, wenn man weiß, wie lange manche Menschen auf
Deutschunterricht warten müssen.
Ein anderes Beispiel: ein befreundeter Anwalt aus der
Nachbarstadt hat sich als Sprachlehrer zur Verfügung gestellt, aber man hat ihm
erst einmal die organisatorische Aufgabe übertragen, einen Zeitplan zu
erstellen, in den die fast 100 freiwilligen Sprachlehrer seiner Stadt mit allen
ihren Zeitpräferenzen ordentlich eingefügt werden. Ein Überfluss an
Hilfsangeboten wohin man schaut.
Überall in Refugistan wundert man sich über die ungebrochene
Bereitschaft der Deutschen, etwas für die Flüchtlinge zu tun. Trotzdem halten
sich die Leute, mit denen ich bisher gesprochen habe, aus der Politik heraus –
die Erhaltung oder Modifizierung des Schengener Abkommens ist hier kein Thema.
Im Zentrum stehen die Menschen, die gekommen sind, mit ihren kleinen und großen
praktischen Sorgen.
Mein erster Eindruck von ihnen, den Flüchtlingen, ist, dass
sie eine ungebrochene Freude haben, nach vielen gefahrvollen Reisen sicher in
Deutschland angekommen zu sein, und dass ihr Optimismus auch die zäh fließende
Zeit überstehen wird, in denen ihre Personalakten durch die Mühlen der Behörden
gedreht werden.
Eine Sozialarbeiterin, die große Teile der
Betreuungsarbeiten in meiner Stadt übersieht, erzählt mir von der
Freundlichkeit und vom Selbstbewusstsein der Flüchtlinge hier. Sie wollen
möglichst schnell ins Sprach- und Arbeitsleben kommen und beweisen, dass ihr
Dasein unter uns Sinn macht. Unser Geld ohne Gegenleistung erhalten zu dürfen,
ist ihnen oft eher peinlich.
„Wir schaffen das“ – diese Worte von Angela Merkel
erscheinen mir der Sozialarbeiterin zwischen die Augen geschrieben zu sein. Wir
schaffen das, das steht als Motto über dem Eingang zu Refugistan.
1 Kommentar:
Danke. Vielen Dank
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