Freitag, 19. Februar 2016

Nachrichten aus Refugistan


Parallelwelten existieren oft so, dass sie zwar eng mit unserer täglichen Lebenswelt verwoben sind, von uns aber praktisch niemals wahrgenommen werden. In der Zauberwelt von Harry Potter ist es die Parallelwelt der Hogwartschule. Zu ihr führt ein geheimer Zugang, der Bahnsteig 9¾ im Londoner Bahnhof King’s Cross. In unseren Städten ist es ganz ähnlich, man muss hier nur in bestimmte Straßen gehen, an bestimmten Türen klopfen und wird dann in der Regel von einer Gruppe junger Männer oder auch von einem Ehepaar mit Kindern begrüßt werden, die in einer spartanischen Einrichtung aber in reinlichen Verhältnissen ihr Leben führen.

Es sind Flüchtlinge. Sie sprechen nicht unsere Sprache, sind gesetzlich daran gehindert, an unserem Arbeitsleben teilzunehmen, wissen aber über das Internet, an das jeder einzelne angeschlossen ist, das allermeiste über unser Leben. Es ist ihnen nicht fremd, sie sind mit dem festen Willen gekommen, es mit uns zu teilen.

Solange sie allerdings noch keinen Zugang zu unserer Arbeits- und Sprachwelt haben, leben sie getrennt von uns in einem Paralleluniversum, zu dem der normale Bürger keinen Zugang hat. Er erfährt zwar über das Fernsehen etwas davon, bekommt aber die Bilder aus der realen Alltagswelt kaum mit, weil sich in die Welt der kleinen Wohnungen mit den vielen Menschen darin kaum je mal einer von der Presse verirrt.

Nun wird diese Welt allerdings von einer zweiten Art von Menschen bevölkert, Menschen, die ebenfalls unbekannt und versteckt leben. Es sind die freiwilligen Helfer, die sich den Flüchtlingen zuwenden. Sie organisieren Sprachunterricht, Versorgung mit gebrauchten Kleidern und Möbelstücken, Kinderbetreuung, Arzt- und Behördenbesuche und vieles andere mehr. Eigenartigerweise wissen auch diese Helfer oft sehr wenig über dieses Paralleluniversum, in dem sich Hilfesuchende und Helfer begegnen. Das mag daran liegen, dass niemand von ihnen mit seiner Leistung groß hervortreten will. Und so kommt es dann nur eher zufällig zu Begegnungen, wo der eine sagt „Ich muss gleich Sprachunterricht geben“ und der andere sagt „und ich gehe in der Kleiderkammer aushelfen.“ Und beide sind erst überrascht und dann froh, einen versprengten Kameraden im großen Krieg der Barmherzigkeit gefunden zu haben.

Ich habe nach den ersten zögerlichen Schritten in das Land, in dem man solche Begegnungen machen kann, gefunden, dass es voller Wunder ist. Ich habe ihm den Namen „Refugistan“ gegeben, um darin den Zauber ein wenig einzufangen, Refugistan, das Land der Refugees. Ein Teil des Zaubers entsteht durch die immer wieder verblüffende Erkenntnis, wie groß dieses Land ist und wie viel Hilfe in ihm möglich ist. Mir ging es z.B. so: ein pensionierter Studienrat, bekannt mit der Freundin, die in der Kleiderkammer hilft, kennt einen Dritten, der „eine Sportgruppe für Flüchtlinge aufmachen will“, wie mir gesagt wird. Von dem wiederum bekomme ich auf meine Kontakt-Mail hin einen Flyer, in dem die Sportangebote fast aller Vereine meiner Heimatstadt aufgeführt sind – mehr als 70 an der Zahl!

In der Kleiderkammer beginnt noch eine weitere Spur, hin zu einer sozialen Organisation wenige Häuser weiter. Da bekommt die Gruppe junger Iraner, an deren Wohnungstür ich vor ein paar Wochen vorsichtig angeklopft habe, stehenden Fußes die Zusage, Deutschunterricht zu erhalten. Eine solche Zusage ist eine Goldader, wenn man weiß, wie lange manche Menschen auf Deutschunterricht warten müssen.

Ein anderes Beispiel: ein befreundeter Anwalt aus der Nachbarstadt hat sich als Sprachlehrer zur Verfügung gestellt, aber man hat ihm erst einmal die organisatorische Aufgabe übertragen, einen Zeitplan zu erstellen, in den die fast 100 freiwilligen Sprachlehrer seiner Stadt mit allen ihren Zeitpräferenzen ordentlich eingefügt werden. Ein Überfluss an Hilfsangeboten wohin man schaut.

Überall in Refugistan wundert man sich über die ungebrochene Bereitschaft der Deutschen, etwas für die Flüchtlinge zu tun. Trotzdem halten sich die Leute, mit denen ich bisher gesprochen habe, aus der Politik heraus – die Erhaltung oder Modifizierung des Schengener Abkommens ist hier kein Thema. Im Zentrum stehen die Menschen, die gekommen sind, mit ihren kleinen und großen praktischen Sorgen.

Mein erster Eindruck von ihnen, den Flüchtlingen, ist, dass sie eine ungebrochene Freude haben, nach vielen gefahrvollen Reisen sicher in Deutschland angekommen zu sein, und dass ihr Optimismus auch die zäh fließende Zeit überstehen wird, in denen ihre Personalakten durch die Mühlen der Behörden gedreht werden.

Eine Sozialarbeiterin, die große Teile der Betreuungsarbeiten in meiner Stadt übersieht, erzählt mir von der Freundlichkeit und vom Selbstbewusstsein der Flüchtlinge hier. Sie wollen möglichst schnell ins Sprach- und Arbeitsleben kommen und beweisen, dass ihr Dasein unter uns Sinn macht. Unser Geld ohne Gegenleistung erhalten zu dürfen, ist ihnen oft  eher peinlich.

„Wir schaffen das“ – diese Worte von Angela Merkel erscheinen mir der Sozialarbeiterin zwischen die Augen geschrieben zu sein. Wir schaffen das, das steht als Motto über dem Eingang zu Refugistan.