Montag, 27. März 2023

Historisch-kritische Bibelforschung und die Jesus-Serie The Chosen

Ein lieber Freund sagte mir, als ich ihm begeistert von meinen Erlebnissen mit The Chosen berichtete, er hoffe doch, dass die Serie die Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelforschung berücksichtigt habe. Ich hatte wenig Zeit zu antworten, deshalb habe ich die unhöfliche Antwort „mit dieser Kritik wäre die Serie erst gar nicht entstanden" unterdrückt und habe nur ein paar allgemeine Worte gesagt.


Nach längerem Überlegen ist meine Antwort nun aber doch: auf der Basis der Bibelkritik wären viele Teile des Films erst gar nicht entstanden, und außerdem: ein Film auf dieser Basis hätte nur ein paar Autoren, über Zettelkasten gebeugt, beim Aufschreiben der Bibel zeigen können.

The Chosen sagt bereits im Vorspann, dass viele Szenen einer freien Erfindung folgen. Das kann niemand übersehen, der die Berichte der Bibel halbwegs kennt. Wer allerdings Erfahrungen mit der Konstruktion von modernen Romanen gemacht hat, weiß vielleicht, dass auch diese ohne Hinzuerfindungen kaum auskommen. Man merkt das immer dann, wenn ein Autor seine eigene Lebensgeschichte aufschreibt und kein Material hat, das er frei hinzuerfinden kann, damit die Geschichte einen roten Faden bekommt. Dann wird es oft ungewöhnlich sperrig und am Ende langweilig.

Umgekehrt wäre etwa eine streng an den realen Personen und Ereignissen orientierte Ausgabe der Buddenbrooks nicht halbwegs in dem Maße lesbar wie es am Ende der Roman ist. Die Hinzuerfindungen glätten gewissermaßen den Verlauf der Erzählung und schaffen den roten Faden.

Paras Patel als Matthäus
Einen roten Faden hat The Chosen in reichem Maße – aber eben nur, weil viele der hinzuerfundenen Szenen das große Bild ergänzen. Ich erwähne als Beispiel den Jünger Matthäus, der als reicher Zöllner dargestellt wird, der aber gleichzeitig auch der Schreiber des ersten Evangeliums sein soll. Dieses Zusammengehen würde die moderne Bibelkritik bestreiten. Aber im Film läuft der gute Mann deutlich an seinen reichen Kleidern erkennbar als wunderbar bunter Farbtupfer mit den Jüngern mit und notiert sich vieles, was geschieht – um später darüber schreiben zu können.

Der Autor und Regisseur der Serie, Dallas Jenkins, hat Ihm dabei den Charakter eines Autisten gegeben, wobei Jenkins auf persönliche Erfahrungen mit Autisten in seinem unmittelbaren Lebensbereich zurückgreifen konnte. Der Autismus erklärt die Präzision, mit der Matthäus in seinem ersten Beruf die Zollschulden nachhalten kann und in seinem zweiten Beruf, die Worte und Taten Jesu behält. Das passt alles – auch wenn es historisch hierfür keinen Beweis gibt.

Sehr anrührend ist auch die Erfindung der Ehefrau des Simon Petrus. Aus der Bibel bekannt ist die Existenz seiner Schwiegermutter, also ist es nicht falsch, auch die Existenz einer Ehefrau anzunehmen. Und dann ist es nicht falsch, die Probleme des Simon zu schildern, die sich aus seiner ständigen Abwesenheit ergeben.

Der Film erfindet eine Schwangerschaft hinzu, die in einer Fehlgeburt endet. Diese stürzt Petrus in tiefe Zweifel und seine Frau in die Problematik, jetzt unrein zu sein. Die dritte Staffel endet in dem vorerst letzten Film (Episode 8), in welcher der sinkende Petrus auf dem See Genezareth von Jesus gerettet wird und gleichzeitig die Ehefrau zur Reinigung in ein rituelles jüdisches Bad ein taucht. Beide tauchen ein, filmisch wunderbar verbunden, beide sind am Ende gerettet, Simon durch Jesus und seine Frau durch den Gehorsam gegenüber den alten jüdischen Gebräuchen.

Es ist eine große friedensstiftende Gesamtschau, die alle Filme durchzieht. Unter den Pharisäern sind ausgesprochen sympathische Typen, und auch der römische Kommandant freundet sich mehr und mehr mit den Jüngern an (und wird voraussichtlich in der vierten Staffel der Hauptmann von Kapernaum sein, dessen Knecht geheilt wird).

Ich war an vielen Stellen des Films in meinem Herzen sehr stark angerührt und habe mich dann auch immer wieder gefragt, warum mir der tiefere Zusammenhang der einzelnen Jesusgeschichten nie so deutlich vor Augen gestanden hat. Es muss so oder ähnlich gewesen sein. wie es der Film beschreibt. Aber mein alter Zettelkasten-Glauben, hat das nie zu einem großen Bild zusammenfassen können. Dazu brauchte ich den Film.