Nach längerem Überlegen ist meine Antwort nun aber doch: auf der Basis der Bibelkritik wären viele Teile des Films erst gar nicht entstanden, und außerdem: ein Film auf dieser Basis hätte nur ein paar Autoren, über
Zettelkasten gebeugt, beim Aufschreiben der Bibel zeigen können.
The Chosen sagt bereits im Vorspann, dass viele Szenen einer
freien Erfindung folgen. Das kann niemand übersehen, der die Berichte der Bibel halbwegs kennt. Wer allerdings Erfahrungen mit der Konstruktion
von modernen Romanen gemacht hat, weiß vielleicht, dass auch diese ohne
Hinzuerfindungen kaum auskommen. Man merkt das immer dann, wenn ein Autor seine
eigene Lebensgeschichte aufschreibt und kein Material hat, das er frei hinzuerfinden
kann, damit die Geschichte einen roten Faden bekommt. Dann wird es oft
ungewöhnlich sperrig und am Ende langweilig.
Umgekehrt wäre etwa eine streng an den realen Personen und Ereignissen orientierte Ausgabe der Buddenbrooks nicht halbwegs in dem Maße lesbar wie es am Ende der Roman ist. Die Hinzuerfindungen glätten gewissermaßen den Verlauf der Erzählung und schaffen den roten Faden.
Paras Patel als Matthäus |
Der Autor und Regisseur der Serie, Dallas Jenkins, hat Ihm dabei
den Charakter eines Autisten gegeben, wobei Jenkins auf persönliche Erfahrungen
mit Autisten in seinem unmittelbaren Lebensbereich zurückgreifen konnte. Der
Autismus erklärt die Präzision, mit der Matthäus in seinem ersten Beruf die
Zollschulden nachhalten kann und in seinem zweiten Beruf, die Worte und Taten
Jesu behält. Das passt alles – auch wenn es historisch hierfür keinen Beweis
gibt.
Sehr anrührend ist auch die Erfindung der Ehefrau des Simon
Petrus. Aus der Bibel bekannt ist die Existenz seiner Schwiegermutter, also ist
es nicht falsch, auch die Existenz einer Ehefrau anzunehmen. Und dann ist es
nicht falsch, die Probleme des Simon zu schildern, die sich aus seiner
ständigen Abwesenheit ergeben.
Der Film erfindet eine Schwangerschaft hinzu, die in einer
Fehlgeburt endet. Diese stürzt Petrus in tiefe Zweifel und seine Frau in die
Problematik, jetzt unrein zu sein. Die dritte Staffel endet in dem vorerst
letzten Film (Episode 8), in welcher der sinkende Petrus auf dem See Genezareth
von Jesus gerettet wird und gleichzeitig die Ehefrau zur Reinigung in ein
rituelles jüdisches Bad ein taucht. Beide tauchen ein, filmisch wunderbar verbunden, beide sind am Ende
gerettet, Simon durch Jesus und seine Frau durch den Gehorsam gegenüber den
alten jüdischen Gebräuchen.
Es ist eine große friedensstiftende Gesamtschau, die alle
Filme durchzieht. Unter den Pharisäern sind ausgesprochen sympathische Typen, und
auch der römische Kommandant freundet sich mehr und mehr mit den Jüngern an
(und wird voraussichtlich in der vierten Staffel der Hauptmann von Kapernaum
sein, dessen Knecht geheilt wird).
Ich war an vielen Stellen des Films in meinem Herzen sehr stark angerührt und habe mich dann auch immer wieder gefragt, warum mir der tiefere
Zusammenhang der einzelnen Jesusgeschichten nie so deutlich vor Augen gestanden
hat. Es muss so oder ähnlich gewesen sein. wie es der Film beschreibt. Aber
mein alter Zettelkasten-Glauben, hat das nie zu einem großen Bild
zusammenfassen können. Dazu brauchte ich den Film.
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