Freitag, 22. Februar 2008

Realismus im Mittelalter


Vom Realismus in der Kunst des Mittelalters wird man wahrscheinlich nur sagen können, daß es ihn nicht gab. Jedenfalls finden sich in den Bildern und Skulpturen aus der Zeit zwischen Karl dem Großen und Martin Luther offenbar keine Nachbildungen des realen Lebens, so wie wir heutigen sie aus unserem Zeitalter der Fotografie gewöhnt sind. Statt dessen begegnen uns die Gesichter und Gestalten der Menschen, die damals über die Erde gingen, in einer stilisierten und oft vereinfachten Form, was uns vermuten läßt, die Menschen hätten damals das feine und detailgenaue Nachbilden der Wirklichkeit nicht beherrscht.

Die Protraits von berühmten Leuten geben so gut wie nichts über deren persönliche Eigenarten wieder. Ihre Gesichter wirken untereinander ähnlich und gerade so, als ob sie eigentlich nur das wiedergäben, was man damals idealtypisch unter einem Menschen verstand, nicht, was er wirklich war. Walter von der Volgelweide (rechts) ist blond, das erfährt man immerhin und Rudolf von Neuenburg, sein Minnesängerkollege aus der Schweiz (links), eher brünett, aber würde man die beiden im wirklichen Leben anhand der berühmten Bilder aus dem "Codex Manesse" von etwa 1300 wiedererkennen? Man muß es bezweifeln.

Die realistische Wiedergabe von Gesichtern, Körperteilen aber auch von Landschaften und anderen Gegenständen der belebten und unbelebten Natur bricht über uns herein, wenn die Portraitisten der Renaissance beginnen, die Fürsten in Venedig und Florenz so zu malen, daß sie jedes Detail eines Gesichtes - um es mit einem Wort aus der Werbung zu sagen - porentief wiedergeben.

Fast furchterregend lebendig wirken die Bilder, wie hier das Portrait des Dogen Leonardo Loredan mit seinen tiefen Magenfalten (gemalt 1501 von Giovanni Bellini). Sie entstehen in der Zeit, in der mit der Entdeckung Amerikas, der Reformation der Kirche, aber auch mit dem Verlust von Byzanz an den Islam die Welt anders wird. Ein anderer Doge wird alt, gebrechlich und mit einer häßlichen Warze an der Nase gemalt. So also sehen Memschen aus, wenn man sie sich einmal genauer ansieht und nicht beim Idealbild stehenbleibt.

Was hat die Menschen des Mittelalters daran gehindert, genauer hinzusehen? Mir ist diese Frage vor ein paar Jahren in einem Frankreich-Urlaub gekommen, als ich kurz hintereinander eine berühmte mittelalterliche Steinfigur, den Christus über dem Eingang der Kirche von Vezelay im Burgund gesehen habe und danach ein lebensechtes Abbild einer Frauenfigur im Louvre.

Der Künstler, der den Christus von Vezelay etwa um das Jahr 1125 herum aus dem Stein gemeißelt hat, muß ein Meister seines Faches gewesen sein. Mit dem kunstvollen Faltenwurf über den Knien Christi (siehe Ausschnitt) hat er - so wurde uns damals erklärt - letzte kosmische Geheimnisse symbolisiert, die Hiererchie der Engel, die Bewegung der Planeten - ich weiß nicht mehr, was alles in der Ausgestaltung dieses Details steckt.

Aber ein Faltenwurf, wie er in Wirklichkeit an jeder Tischdecke zu beobachten ist, war es nicht. Falten werfen sich anders.

Wie sie sich wirklich werfen, das ist an prominenter Stelle im Louvre zu sehen, und viele Besucher bleiben verzückt vor dem weltberühmten Bauchnabel der Nike stehen, über den leicht und flüssig die Gaze eines hauchdünnen Kleides streichelt. Aus Samothrake, einer griechischen Insel, die ich 1971 im Dunst vor der thrakischen Küste gesehen habe, stammt diese Göttin der Schönheit, nein: des Sieges, und ihr faltenwerfender Rock ist mehr als 1000 Jahre älter als das Gewand des Christus von Vezelay.

Auf 190 v. Chr. schätzt man die Entstehung der Statue, damals hatte sie noch Kopf und Arme und vermutlich einen Speer, aber schöner ist sie vermutlich ohne, habe ich mir immer gedacht, wenn ich sie gesehen habe.

Was ist in den Jahren zwischen 190 vor und 1125 nach Christus geschehen, daß die Bildhauer es verlernt haben, die Falten eines Stoffes so fließen zu lassen, wie sie der Wind fließen läßt? Ist tatsächlich etwas geschehen, was den Menschen die gestalterischen Mittel genommen hat, nach dem Vorbild der Griechen und Römer realistische Abbilder der Wirklichkeit zu schaffen?



Ich habe da meine Zweifel. Und die Zweifel sind mir gekommen, nachdem ich vor vielen Jahren ein mittelalterliches Abbild der Füße Christi gesehen habe. Es befindet sich in der Nähe der Via Appia in Rom und soll den Moment festhalten, wo der vor der Christenverfolgung in Rom fliehende Petrus am Rande der Stadt Jesus trifft. Der trägt erneut sein Kreuz, und als Petrus ihn erschrocken fragt: Herr, wohin gehst du? Domine, qou vadis? antwortet Jesus: Ich gehe nach Rom, mich noch einmal kreuzigen zu lassen. Venio Romam iterum cruzifigi. Und brennt den Abruck seiner beiden Füße in den Marmorboden.

So oder ähnlich erzählt es die Legende, und in der Kirche Chiesa di Santa Maria in Palmis an der Via Appia werden also die Füße Christi gezeigt. Ich habe sie gesehen und kann bezeugen, was man auf dem nebenstehenden Wikipedia-Foto nicht deutlich erkennen kann: sie sind ebenso stilisiert wie das Gesicht Walters von der Volgelweide im Codex Manesse, sind U-förmig und regelmäßig gerundet, im Fuß wie in den einzelnen Zehen, und außerdem um die Hälfte größer als mein eigener Fuß.

Was hat den Bildhauer - denn ein solcher muß es ohne Zweifel gewesen sein, die Legende kann hier nicht stimmen - dazu gebracht, vom Abdruck seines eigenen Fußes im feuchten Blumenbeet seines Gartens weg zu sehen und einen Fuß zu gestalten, der vielleicht so aussieht, wie ein Fuß aussehen soll, aber nicht, wie er wirklich ist? Es kann nicht die mangelnde Anschauung gewesen sein und auch nicht fehelnde Kunst. Der Bildhauer muß innerlich vor sich einen Ur-Fuß gesehen haben, so wie der Maler Walters von der Vogelweide einen Ur- und Ideal-Walter gesehen hat. Vielleicht hat er sogar diesen Ur-Fuß leibhaftig so gesehen, wie er tatsächlich ist, und nicht, wie er nur unserem Auge erscheint.

Letzterer Gedanke gefällt mir. Was wäre, habe ich mich nach Rom oft gefragt, wenn unser Auge uns doch stärker täuscht als wir das annehmen? Was wäre, wenn es Zeiten gibt, in denen das Geistige so präsent ist, daß es das Körperliche hinter sich treten läßt und selbst erscheint?

Wem der Gedanke nicht gefällt, der mag sich durch die eher humorvolle Betrachtung eines Malers unserer Zeit versöhnen lassen. Ich las vor vielen Jahren in einem Buch des holländischen Malers Rien Poortvliet (1932 - 1995), den mein Vater wegen seiner präzisen und lebensechten Malweise sehr verehrte. In diesem Buch ging es um das geheime Leben der Heinzelmännchen, deren Lebensumstände von Poortvliet mit wissenschaftlicher Akribie dargestellt wurde (im Original: Leven en werken van de Kabouter).

Im Vorwort räumt Poortvliet einige Bedenken bezüglich der Existenz von Heinzelmännchen beiseite: es sei natürlich bekannt, daß es Menschen gäbe, die in ihrem Leben noch nie ein Heinzelmännchen gesehen haben. Aber das begründe eher einige Zweifel an der Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen als an der Existenz von Kabouters.

So oder ähnlich soll es sein! Und die Füße der Heiligen sind also U-förmig und so regelmäßig geformt wie das Gesicht Walters von der Vogelweide. Das Mittelalter lehrt uns, den Realismus hinter den Dingen zu sehen.

P.S. Habe nochmal den Bauchnabel der Nike betrachtet und bin mir meiner Sache doch nicht so sicher.

Dienstag, 5. Februar 2008

Erlösung


In den letzten Tagen und Wochen habe ich ein kleines Buch gelesen, das in den 20er Jahren entstanden ist und von einem Mann geschrieben wurde, der damals eine Art katholischer Arbeiterpriester gewesen ist. Ich habe das Buch in einer Kölner Kirche gefunden*, bin beim Lesen auf den Autor neugierig geworden und habe mir später ein zweites Buch besorgt, welches das Leben dieses Mannes beschreibt. Mittlerweile ist mir José, wie der Priester heißt, zu einem Freund geworden, dem ich gerne einmal persönlich begegnet wäre. Er ist 1975 gestorben.

Vieles was er schreibt, hört sich evangelisch an – etwa das, was er über die Würde menschlicher Arbeit sagt und über das Streben nach Heiligung, also einer Durchdringung des alltäglichen Lebens mit dem Geist Gottes, und anderes mehr. Über die Arbeit hat ja auch Luther sehr schön gepredigt, und über die Heiligung dann später die Pietisten und Methodisten. Manches andere bei José versteht dagegen vermutlich nur ein Katholik – etwa die Verehrung für Maria und Josef, deren Bilder allerdings zugegebenermaßen den Wert von täglicher, körperlicher Arbeit sehr viel lebendiger vor Augen führen als jedes Lippenbekenntnis eines evangelischen Theologen zur Achtung vor dem Mann an der Hobel- oder Drehbank.

Ein anderer katholischer Gedanke bei José ist mir besonders fremd, und ich habe mir anfangs sogar gesagt, daß er falsch ist und sich auf einfache Weise widerlegen läßt. Anderseits gefiel er mir dann immer mehr, und ohne diesen Gedanken ist die Lehre vom Wert der geringen Arbeit und von der Würde eines jeden Lebens, auch des kleinen, eigentlich nicht vollständig.

Er führt in der Konsequenz dazu, daß José in seiner Lehre von der göttlichen Durchdringung des Alltäglichen am Ende auch die Kranken dazu anhält, ihre Schmerzen in Würde zu tragen Und nicht nur das, sie sollen sie sogar jemandem „opfern“, sie also in dem Bewußtsein aushalten, daß andere Menschen dadurch etwas Gutes gewinnen können.

Einmal sagt er, wir seien dazu aufgerufen, in der Christusnachfolge uns ähnlich wie der leidende Gottesknecht zu verstehen und zu verhalten. Über ihn sagt ja Jesaja, daß er krank und zerschlagen war, und fügt dann die bekannten Worte an: Durch seine Wunden sind wir geheilt (Kapitel 53,5). Auch wir können, indem wir leiden und das Leiden bewußt auf uns nehmen, im Sinne dieses Gottesknechtes Erlöser oder besser „Miterlöser“ sein, sagt José.

Dieser Gedanke ist fremd. Aber ist er es wirklich? Schon eine der ursprünglichen, jüdischen Interpretationen der Stellen vom leidenden Gottesknecht (in Jesaja 42, 49, 50 und 53/53) sieht nicht göttliches sondern menschliches Leid als den Kern der Jesaja-Botschaft an. Diese jüdische Deutungsmöglichkeit nimmt an dieser Stelle an, das Leiden des Gottesknechtes sei gleichbedeutend mit dem Leiden des jüdischen Volkes. Man hört diese Deutung zwar nicht oft, aber wohl eher deswegen, um dem Antisemitismus nicht auf verquere Art und Weise immer neue Nahrung zu geben.

Vor einiger Zeit habe ich von Freunden eher ablehnende Reaktionen bekommen, als ich behauptet habe, das Leid der deutschen Juden habe den relativen Frieden begründet, unter dem Millionen von Fremdlingen 60 Jahre nach dem Holocaust in Deutschland leben. In der Erinnerung an Auschwitz verbieten sich – meine ich nach wie vor - eigentlich alle Gedanken an eine „Endlösung“ im Sinne eines ethnisch gesäuberten Volkes. Sicher ist, daß zumindest unser großzügiges Asylrecht auf dem Boden des Unrechtes gewachsen ist, welches durch das enge Asylrecht begünstigt wurde, das in den demokratischen Staaten der Jahre um 1940 herrschte und den Juden die Ausreisemöglichkeiten versperrte.

Ich denke nach wie vor, daß es tatsächlich ein Leid gibt, das der eine trägt und aus dem der andere Vorteile erhält. So kann Leid etwa wie ein Licht sein, es kann vom Bett eines Schwerkranken ausgehend einen Glanz von Menschenwürde ausstrahlen, einen Widerschein von menschlichem Adel, der den Besucher ganz tief in seinem Herzen trifft und ihm eine Ahnung von der Würde seines eigenen Lebens gibt. Natürlich kann Krankheit und Tod auch das Gegenteil bewirken, kann uns Angst machen, uns unser Leben als gefährdet und bedroht erscheinen lassen. Aber das andere gilt vielleicht doch in stärkerem Maße.

In den Striemen Christi liegt unser Heil, das haben die Christen zu allen Zeiten bekannt und die Formel vom Leid des einen und dem Vorteil des anderen bejaht, meist allerdings ausschließlich als göttliches Handeln. Aber auch der Glaube, daß man das Kreuz Christi aufnehmen und tragen soll, ist allgemeines Gut der Christen. José lädt uns an dieser Stelle eigentlich nur zu einem ganz kleinen nächsten Schritt ein, daß wir sagen: wir tragen nicht nur wie Christus ein Kreuz, ein kleines zwar nur, wir bringen mit unserem Kreuz auch Heil und Erlösung in unsere Umgebung, auch dies nur in kleinen Stücken, aber doch wirksam.

Als José etwa 1930 damit anfing, ein größeres christliches Werk zu gründen, mußte er noch in der frühen Gründungsphase ohnmächtig erleben, wie eine enge Mitarbeiterin an Krebs starb, viel zu jung und unter furchtbaren Schmerzen. José hat ihre Tagebücher verwahrt, in denen sie davon berichtet hat, wie sie ihre schlaflosen, im Schmerz durchwachten Nächte bewußt als ein Opfer für „das Werk“ dargebracht hat. Solche Opfer hat José als das tiefe und sichere Fundament seiner Arbeit verstanden.

Ich nennen Josés vollen Namen erst zum Schluß - Josemaria Escriva - denn mit seiner Nennung verbinden manche Leute ganz andere, oft sehr kritische und ablehnende Gedanken. Er wurde berühmt als der Gründer einer katholischen Laienbewegung, die für viele ihrer Gegner das schwarze Loch im schwarzen Katholizismus ist.

Escriva hat diese Laienbewegung nach dem großen Wert, welchen er aller menschlichen Arbeit im Lichte Gottes beigemessen hat, „Arbeit Gottes“ genannt, Opus Dei.


*gestohlen, um ehrlich zu sein. Ich hatte kein Wechselgeld und schulde der Kirche St. Pantaleon € 4,50 für Escrivas „Der Weg“. Eine Buß-Wallfahrt ist bereits geplant. Man kann das kleine Buch mit einigen anderen Schriften von Escriva im Internet nachlesen, in vielen Sprachen, auf einer sehr sorgfältig gestalteten Seite http://www.escrivaworks.org/