Vom Realismus in der Kunst des Mittelalters wird man wahrscheinlich nur sagen können, daß es ihn nicht gab. Jedenfalls finden sich in den Bildern und Skulpturen aus der Zeit zwischen Karl dem Großen und Martin Luther offenbar keine Nachbildungen des realen Lebens, so wie wir heutigen sie aus unserem Zeitalter der Fotografie gewöhnt sind. Statt dessen begegnen uns die Gesichter und Gestalten der Menschen, die damals über die Erde gingen, in einer stilisierten und oft vereinfachten Form, was uns vermuten läßt, die Menschen hätten damals das feine und detailgenaue Nachbilden der Wirklichkeit nicht beherrscht.
Die Protraits von berühmten Leuten geben so gut wie nichts über deren persönliche Eigenarten wieder. Ihre Gesichter wirken untereinander ähnlich und gerade so, als ob sie eigentlich nur das wiedergäben, was man damals idealtypisch unter einem Menschen verstand, nicht, was er wirklich war. Walter von der Volgelweide (rechts) ist blond, das erfährt man immerhin und Rudolf von Neuenburg, sein Minnesängerkollege aus der Schweiz (links), eher brünett, aber würde man die beiden im wirklichen Leben anhand der berühmten Bilder aus dem "Codex Manesse" von etwa 1300 wiedererkennen? Man muß es bezweifeln.
Die realistische Wiedergabe von Gesichtern, Körperteilen aber auch von Landschaften und anderen Gegenständen der belebten und unbelebten Natur bricht über uns herein, wenn die Portraitisten der Renaissance beginnen, die Fürsten in Venedig und Florenz so zu malen, daß sie jedes Detail eines Gesichtes - um es mit einem Wort aus der Werbung zu sagen - porentief wiedergeben.
Fast furchterregend lebendig wirken die Bilder, wie hier das Portrait des Dogen Leonardo Loredan mit seinen tiefen Magenfalten (gemalt 1501 von Giovanni Bellini). Sie entstehen in der Zeit, in der mit der Entdeckung Amerikas, der Reformation der Kirche, aber auch mit dem Verlust von Byzanz an den Islam die Welt anders wird. Ein anderer Doge wird alt, gebrechlich und mit einer häßlichen Warze an der Nase gemalt. So also sehen Memschen aus, wenn man sie sich einmal genauer ansieht und nicht beim Idealbild stehenbleibt.
Was hat die Menschen des Mittelalters daran gehindert, genauer hinzusehen? Mir ist diese Frage vor ein paar Jahren in einem Frankreich-Urlaub gekommen, als ich kurz hintereinander eine berühmte mittelalterliche Steinfigur, den Christus über dem Eingang der Kirche von Vezelay im Burgund gesehen habe und danach ein lebensechtes Abbild einer Frauenfigur im Louvre.
Der Künstler, der den Christus von Vezelay etwa um das Jahr 1125 herum aus dem Stein gemeißelt hat, muß ein Meister seines Faches gewesen sein. Mit dem kunstvollen Faltenwurf über den Knien Christi (siehe Ausschnitt) hat er - so wurde uns damals erklärt - letzte kosmische Geheimnisse symbolisiert, die Hiererchie der Engel, die Bewegung der Planeten - ich weiß nicht mehr, was alles in der Ausgestaltung dieses Details steckt.
Aber ein Faltenwurf, wie er in Wirklichkeit an jeder Tischdecke zu beobachten ist, war es nicht. Falten werfen sich anders.
Wie sie sich wirklich werfen, das ist an prominenter Stelle im Louvre zu sehen, und viele Besucher bleiben verzückt vor dem weltberühmten Bauchnabel der Nike stehen, über den leicht und flüssig die Gaze eines hauchdünnen Kleides streichelt. Aus Samothrake, einer griechischen Insel, die ich 1971 im Dunst vor der thrakischen Küste gesehen habe, stammt diese Göttin der Schönheit, nein: des Sieges, und ihr faltenwerfender Rock ist mehr als 1000 Jahre älter als das Gewand des Christus von Vezelay.
Auf 190 v. Chr. schätzt man die Entstehung der Statue, damals hatte sie noch Kopf und Arme und vermutlich einen Speer, aber schöner ist sie vermutlich ohne, habe ich mir immer gedacht, wenn ich sie gesehen habe.
Was ist in den Jahren zwischen 190 vor und 1125 nach Christus geschehen, daß die Bildhauer es verlernt haben, die Falten eines Stoffes so fließen zu lassen, wie sie der Wind fließen läßt? Ist tatsächlich etwas geschehen, was den Menschen die gestalterischen Mittel genommen hat, nach dem Vorbild der Griechen und Römer realistische Abbilder der Wirklichkeit zu schaffen?
Ich habe da meine Zweifel. Und die Zweifel sind mir gekommen, nachdem ich vor vielen Jahren ein mittelalterliches Abbild der Füße Christi gesehen habe. Es befindet sich in der Nähe der Via Appia in Rom und soll den Moment festhalten, wo der vor der Christenverfolgung in Rom fliehende Petrus am Rande der Stadt Jesus trifft. Der trägt erneut sein Kreuz, und als Petrus ihn erschrocken fragt: Herr, wohin gehst du? Domine, qou vadis? antwortet Jesus: Ich gehe nach Rom, mich noch einmal kreuzigen zu lassen. Venio Romam iterum cruzifigi. Und brennt den Abruck seiner beiden Füße in den Marmorboden.
So oder ähnlich erzählt es die Legende, und in der Kirche Chiesa di Santa Maria in Palmis an der Via Appia werden also die Füße Christi gezeigt. Ich habe sie gesehen und kann bezeugen, was man auf dem nebenstehenden Wikipedia-Foto nicht deutlich erkennen kann: sie sind ebenso stilisiert wie das Gesicht Walters von der Volgelweide im Codex Manesse, sind U-förmig und regelmäßig gerundet, im Fuß wie in den einzelnen Zehen, und außerdem um die Hälfte größer als mein eigener Fuß.
Was hat den Bildhauer - denn ein solcher muß es ohne Zweifel gewesen sein, die Legende kann hier nicht stimmen - dazu gebracht, vom Abdruck seines eigenen Fußes im feuchten Blumenbeet seines Gartens weg zu sehen und einen Fuß zu gestalten, der vielleicht so aussieht, wie ein Fuß aussehen soll, aber nicht, wie er wirklich ist? Es kann nicht die mangelnde Anschauung gewesen sein und auch nicht fehelnde Kunst. Der Bildhauer muß innerlich vor sich einen Ur-Fuß gesehen haben, so wie der Maler Walters von der Vogelweide einen Ur- und Ideal-Walter gesehen hat. Vielleicht hat er sogar diesen Ur-Fuß leibhaftig so gesehen, wie er tatsächlich ist, und nicht, wie er nur unserem Auge erscheint.
Letzterer Gedanke gefällt mir. Was wäre, habe ich mich nach Rom oft gefragt, wenn unser Auge uns doch stärker täuscht als wir das annehmen? Was wäre, wenn es Zeiten gibt, in denen das Geistige so präsent ist, daß es das Körperliche hinter sich treten läßt und selbst erscheint?
Wem der Gedanke nicht gefällt, der mag sich durch die eher humorvolle Betrachtung eines Malers unserer Zeit versöhnen lassen. Ich las vor vielen Jahren in einem Buch des holländischen Malers Rien Poortvliet (1932 - 1995), den mein Vater wegen seiner präzisen und lebensechten Malweise sehr verehrte. In diesem Buch ging es um das geheime Leben der Heinzelmännchen, deren Lebensumstände von Poortvliet mit wissenschaftlicher Akribie dargestellt wurde (im Original: Leven en werken van de Kabouter).
Im Vorwort räumt Poortvliet einige Bedenken bezüglich der Existenz von Heinzelmännchen beiseite: es sei natürlich bekannt, daß es Menschen gäbe, die in ihrem Leben noch nie ein Heinzelmännchen gesehen haben. Aber das begründe eher einige Zweifel an der Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen als an der Existenz von Kabouters.
So oder ähnlich soll es sein! Und die Füße der Heiligen sind also U-förmig und so regelmäßig geformt wie das Gesicht Walters von der Vogelweide. Das Mittelalter lehrt uns, den Realismus hinter den Dingen zu sehen.
P.S. Habe nochmal den Bauchnabel der Nike betrachtet und bin mir meiner Sache doch nicht so sicher.
2 Kommentare:
Schöner Eintrag, Papa! Ich denke an die ebenso realitätsfernen Darstellungen der alten Ägypter und habe letzte Woche mit ein paar "neuen Ägypterinnen" gelacht: Sie hätten noch nie jemanden gesehen, der einen Arm nach oben, einen nach unten knickt und dann mit zur Seite gedrehten Schultern seitwärts geradeaus läuft! Im ägyptischen Museum kann man den Wandel vom pharaonischen Ägypten hin bis zum Einfluss der Griechen und Römer sehr schön sehen.
Realismus
Was Realismus in der Kunst sein mag, ist schwer zu bestimmen, für die Literatur ist es wahrscheinlich hoffnungslos, da der Realitätscharakter der Worte selbst rätselhaft ist. In der bildenden Kunst scheint es einfacher: Man malt als realistischer Künstler die Welt halt so, wie das Auge sie sieht. Aber auch das hat seine Tücken, im Prinzip müssten sie dann alle realistischen Künstler auf haargenau die gleiche Weise malen. Auch geht man inzwischen davon aus, daß das Auge seine Bilder nicht passiv rezipiert, sondern aktiv konstruiert. Man spricht von Sehgewohnheiten, Sehkonventionen, und in der Tat, schaut man sich Filme aus den vierziger Jahren an, möchte man schon meinen, die Leute hätten damals die Welt ein wenig anders gesehen als wir heute.
In Bezug auf die bildende Kunst des Mittelalters sind das aber nur Nebenschauplätze. Die mittelalterliche Kunst ist wesentlich religiöse Kunst, auch dort, wo sie auf den ersten Blick weltlich ist: Ein König, ein Ritter ist vor allem ein Geschöpf Gottes, dem es mehr um sein Seelenheil als um das Leben seines irdischen Lebens gehen muß. Da galt es zunächst zu entscheiden, ob das Göttliche überhaupt ins Bild gebracht werden durfte, das Bilderverbot drohte dem Christentum nicht weniger als dem Islam. Es war wohl im 8. Jahrhundert, daß im byzantinischen Bilderstreit die Ikonodulen obsiegt haben über die Ikonoklasten. Aber auch auf Seiten der Ikonodulen war unumstritten, daß es darum ging, das zu malen, was nicht zu sehen ist, keine Form und keinen Körper hat und daher eigentlich gar nicht malbar ist. Das war in der westlichen mittelalterlichen Malerei nicht anders, noch Cimabue (13. Jahrhundert) ist westlicher Ikonenmaler. Erst bei Giotto trennt sich die Wege, die westliche Malerei wird „realistisch“. Pamuk hat diesen historischen Augenblick in seinem Buch über die Farbe Rot intensiv und vielleicht ein wenig langatmig sozusagen von der anderen Seite der Welt aus, ex oriente, festgehalten. Mit der Renaissancemalerei (in Pamuks Buch, wenn ich mich recht entsinne: der fränkischen Malerei) tritt der Mensch in den Vordergrund und Gott dementsprechend in den Hintergrund. Es führt ein recht grader und steiler Weg (bergauf oder auch bergab, wer will das wissen) von Giotto zu Nietzsche und dem Tod Gottes.
Die moderne Wissenschaft ist in dieser Hinsicht wieder mittelalterlich. Die Biologie wird sagen, der Mensch sieht das von der Welt, was es für seinen biologischen Lebensvollzug zu sehen angebracht ist, den Rest nicht. Dem Physiker ist klar, daß unsere Sichtweise nichts zu tun hat mit dem, was die Welt „ist“, wenn sie denn „ist“, - die Sinnhaftigkeit des ontologischen Vokabulars wird ja von den Systemtheoretikern insgesamt in Zweifel gezogen. Nur angemessen insofern, wenn realistische Malerei in diesen wissenschaftlichen Zeiten so megaout ist, wie sie es im Mittelalter war.
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