Heute wird Matthias Ekelmann, Pastor im oberbergischen Wiehl, 60 Jahre alt. Das Bild zeigt ihn und mich in Lodz/Polen vor dem Geburtshaus des Pianisten Artur Rubinstein. Matthias langjähriger Freund, Lothar Leese, mein Pastor in Remscheid, hat ihn am letzten Sonntag in seiner Predigt lobend hervorgehoben. Matthias hat als Leiter eines Diakonischen Werkes einen Tag lang seinen Arbeitsplatz verlassen und hat in dem von ihm geleiteten Seniorenheim die Waschräume und Toiletten geputzt. Lothar Leese hat mit seinem Beispiel illustrieren wollen, wie es im Reich Gottes zugeht, wenn der eine wirklich des anderen Diener ist (Predigt über Markus 10).
Ich möchte Lothars Gedanken ein wenig ergänzen und das, was ich schreibe, Matthias sozusagen als meine kleine "Festschrift" zu seinem Geburtstag widmen. Der Predigttext in Markus 10* beginnt mit der Bitte zweier Jünger, daß ihnen im kommenden Gottesreich prominente Plätze rechts und links von Jesus zugeteilt werden mögen. Die traditionelle Auslegung, die auch Lothar Leese gewählt hat, wendet sich gegen unsere menschliche Eitelkeit und unser Streben nach den vorderen Rängen. Ich denke aber, daß es erlaubt ist, diesen eher persönlichen Blick auf den Sinn der Erzählung um eine etwas weitere, strategische Sichtweise zu ergänzen.
Die Frage der Jünger fällt in eine Zeit, in welcher die Entstehung des Reiches Gottes unmittelbar bevorsteht. Die Jünger spüren etwas davon, es geht mit Jesus nach Jerusalem, die Geschichte vom großen, umjubelten Einzug dort beginnt nur wenige Zeilen später, im nächsten Kapitel Markus 11. Wenn Jesus in den nächsten Tagen für alle sichtbar triumphieren und die Herrschaft dort einnehmen wird, was die beiden Jünger offenbar erwarten, dann werden seine engsten Mitarbeiter prominente Plätze in der Regierungsmannschaft zugewiesen bekommen.
Allerdings schneidet sich an dieser Stelle eine alte Vorstellung vom Reich Gottes mit einer neuen, ganz anderen. Die alte Vorstellung, auf die sich die Jünger mit gutem Recht berufen können, verheißt die Erde denen, die in Treue und Wahrheit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs folgen und ihm dienen. Er hat die Welt gemacht, ihm gehören alle Völker, ihm gehört entsprechend auch die Weltregierung. Noch in den Niederlagen seines Volkes Israels sehen die Propheten die Macht ihres Gottes: die Weltherrscher werden als seine Agenten dargestellt, die in seinem Auftrag das Volk Israel eine gewisse Zeit lang bestrafen sollen.
Diese Vorstellung wird allerdings schon im Alten Testament und lange vor Jesus korrigiert, und es ist vermutlich eine ewige Frage an jeden gläubigen Juden oder Christen, warum diese Korrektur geschieht. Gott wendet sich jetzt den Armen und Machtlosen zu, den anawim wie es hebräischen Urtext heißt. Die Lutherbibel übersetzt es mit "sanftmütig", aber es ist mehr, es ist ein Wort für die Menschen, die fremde Macht widerstandslos erdulden müssen. Ein sanftmütiger König wird dem Volk Israel im Propheten Sacharja (Kapitel 9,9) verheißen, auf einen bescheidenen Esel wird er reiten. Er könnte identisch mit dem leidenden und vollkommen unattraktiven "Gottesknecht" sein, aus den späten Kapiteln des Buches Jesaja (ab Kapitel 42), der die Verachtung der Menschen trägt und sich in besonderer Weise denen zuwendet, deren eigenes Leben ebenfalls von Scheitern und Verachtung bedroht ist.
Wie könnte ein Reich aussehen, das von solchen Königen regiert wird und sich auf solche Untertanen gründet, mit denen allesamt kein Staat zu machen ist? Diese Frage hat die Menschen seit Sacharja und Jesaja bewegt, und sie ist auch in der Person von Jesus nicht so vollständig beantwortet worden, daß wir einfache und fertige Pläne für den Bau eines solchen Reiches haben.
Was wir nachlesen können, ist: Die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen, die anawim mit ihrer Geduld und ihrer nicht immer freiwilligen Unterwerfung unter das, was fremde Mächte ihnen auferlegen. So steht es bereits in Psalm 37 (Vers 11), so übernimmt es Jesus wörtlich in seine acht Seligpreisungen (Matthäus 5,5) und so steht es eigenartigerweise auch im Koran, der allerdings den ganz ähnlichen Vers 29 aus besagtem Psalm zitiert (Sure 21,105: Und wahrlich wir schrieben in den Psalmen […] ‚Erben sollen die Erde meine gerechten Diener’, das einzige direkte Zitat der Bibel im Koran). In Psalm 37 wird der Landbesitz insgesamt fünf mal verheißen: denen, die auf JHWH hoffen (Vers 9), den Sanftmütigen (Vers 11), den von Gott gesegneten (Vers 22), den Gerechten (Vers 29) und am Ende in direkter Ansprache einem unmittelbaren Du: harre auf JHWH und halte seinen Weg ein, und er wird dich erhöhen, das Land zu besitzen. (Vers 34)
Jesus baut sein Reich mit den Sanftmütigen. Die beiden Jünger, die sich hervorgehobene Plätze in der Königsherrschaft Gottes wünschen, haben nicht nur einen falschen persönlichen Ehrgeiz, das würde an dieser historischen Stelle kaum interessieren. Sie mißverstehen den Charakter des neuen Gottesreiches.
Ob wir ihn besser verstehen?
Ich grüße Matthias (hier ein weiteres Bild, das ich auf der gemeinsamen Polenreise von ihm gemacht habe) als einen der Sanftmütigen, wie er jetzt vor meinem inneren Auge mit seinen Gummihandschuhen in der Toilette steht und putzt. Warum sieht das keiner: besitzt er das Erdreich nicht bereits?
*Markus 10
35 Und es treten zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sa-gen zu ihm: Lehrer, wir wollen, daß du uns tust, um was wir dich bitten werden.
36 Er aber sprach zu ihnen: Was wollt ihr, daß ich euch tun soll?
37 Sie aber sprachen zu ihm: Gib uns, daß wir einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken sitzen in deiner Herrlichkeit!
38 Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wißt nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder mit der Taufe getauft werden, mit der ich getauft werde?
39 Sie aber sprachen zu ihm: Wir können es. Jesus aber sprach zu ihnen: Den Kelch, den ich trinke, werdet ihr trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, werdet ihr getauft werden;
40 aber das Sitzen zu meiner Rechten oder Linken zu vergeben, steht nicht bei mir, sondern ist für die, denen es bereitet ist.
41 Und als die Zehn es hörten, fingen sie an, unwillig zu werden über Jakobus und Johannes.
42 Und Jesus rief sie zu sich und spricht zu ihnen: Ihr wißt, daß die, welche als Re-genten der Nationen gelten, sie beherrschen und ihre Großen Gewalt gegen sie üben.
43 So aber ist es nicht unter euch; sondern wer unter euch groß werden will, soll eu-er Diener sein;
44 und wer von euch der Erste sein will, soll aller Sklave sein.
45 Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.