Vor einigen Wochen ist im Internet ein Bericht über die Doktorarbeit des türkischen Außenministers Ahmet Davutoğlu (Bild) erschienen. Davutoğlu gilt als der Chefdenker der türkischen Regierung. Sein Buch Stratejik Derinlik (Strategische Tiefe) mit der darin entwickelten These, die Türkei könne und solle mit allen ihren Nachbarn auf der Basis einer sogenannten Null-Problem-Politik leben, ist das Standardwerk der türkischen Außenpolitik und wird von Erdogan und Davutoğlu Schritt für Schritt umgesetzt.
In seiner Doktorarbeit ist er auf die Grundzüge eines im Islam verwurzelten Staatswesens eingegangen und hat sie mit dem Begriff des Tauhid verbunden. Dieses Wort stammt aus dem Koran und bezeichnet die Einheit Gottes, sein Eins-Sein (tauhid ist aus dem arabischen Wortstamm für eins gebildet). Davutoğlu stellt die Forderung auf, dass auch alle Bewegungen eines modernen, von Muslimen geprägten Staates letztlich auf diese Einheit Gottes Bezug nehmen müssen.
Im Koran bezeichnet Tauhid den vielleicht stärksten Reformimpuls des Propheten. Er richtet sich sowohl gegen die Christen, denen Mohammed vorwarf, sie bevölkerten ihren Himmel mit viel zu vielen Personen, als auch gegen die Juden, über die er urteilte, sie seien übermäßig mit dem Streit über unterschiedliche Lehrmeinungen beschäftigt. Das Gegenmittel gegen beide Übel ist für Mohammed die Konzentration auf das Eins-Sein Gottes.
Die stärkste Wirkung des Tauhid entfaltete sich dann später als Impuls nach innen, indem aus den unorganisierten Stämmen der Arabischen Halbinsel eine schlagkräftige Einheit geformt wurde, welche recht bald die Welt veränderte.
Meine Begegnung mit frommen Muslimen in den letzten Jahren hat mir die Bedeutung dieses Eins-Seins als Lebensprinzip in starkem Maße vor Augen geführt. Es erscheint mir wichtig zu sein, dass in ihrem Denken letztlich alle Gruppen der Gesellschaft von dem Gedanken an eine große, hinter allen Dingen stehende Einheit geprägt sein sollen. Das fängt bei der Großfamilie an und endet zunächst beim Staat, für viele Muslime aber eigentlich erst bei der weltumspannenden Gemeinschaft aller Gläubigen, der Umma. Daß sie derzeit keine Einheit bildet, wird von vielen Muslimen als Schmerz empfunden. Man erinnert sich mit Sehnsucht an die Zeiten, in welchen der Sultan in Istanbul gleichzeitig der Kalif aller Muslime war, also salopp gesagt deren Papst.
Ich kenne viele Muslime, welche die demokratischen Freiheiten der westlichen Gesellschaften in vollkommen gleicher Weise genießen und unterstützen wie ich. Die meisten davon würden aber wohl eher zögern, wenn man ihnen auch ein Bekenntnis zum freien Spiel der Kräfte abverlangen würde, welches nach unserem Verständnis die Grundlage dieser Freiheiten bildet. Dass eine übermäßig stark nach links tendierende Kraft zusammen mit einer übermäßig stark nach rechts tendierenden Kraft eine Balance bildet, die in der Mitte Raum für bürgerliche Freiheiten schafft, das passt nach meinem Eindruck nicht in das muslimische Denken.
Dass in ähnlicher Weise auch eine Trenung von Staat und Kirche eine solche dialektische Balance entstehen läßt, ist ihnen kaum zu vermitteln und erscheint ihnen als Fehler und Schwächung des Westens. Muslime würden im Gegenteil eher fordern, dass die Balance durch eine Rückbesinnung auf die Verantwortung vor Gott erzeugt wird. Wenn man sich auf diese Verantwortung einigen kann, sind Meinungsverschiedenheiten auch größerer Art erlaubt und für das Finden von Lösungswegen nützlich. Aber alle Unterschiede müssen sich letztlich auf eine gemeinsamen Basis beziehen lassen.
Nun ist überall die Forderung der modernen westlichen Gesellschaften zu hören, der Islam müsse sich jetzt ebenfalls der Aufklärung unterziehen und ein dialektisches Verständnis von Wahrheit und gesellschaftlicher Ordnung entwickeln. Dies passt nicht zu der muslimischen, auf die Einheit ausgerichteteten Denkart und tut meines Erachtens den vielen gutwilligen Muslimen Gewalt an, welche die Freiheit der westlichen Gesellschaften bejahen, sie aber anders begründen würden als wir.
Nach meinem Eindruck wird sich, wenn man die Fragen offen lässt, die sich hier stellen, eine interessante Spannung an der Grenzlinie zweier großer Systeme ergeben, die durchaus fruchtbar sein kann. Es ist das Spiel "Eins gegen Zwei", bei dem die Muslime für die Eins stehen und die aufgeklärten Christen für die Zwei.
Indem es von Anfang an von zwei Parteien gespielt wird, haben die aufgeklärten Christen einen kaum einholbaren Vorteil. Sie sollten ihn nutzen, um in großer Geduld auf die Gegenpartei zu hören und vielleicht von ihr zu erfahren, was sie für ihre eigene Staatstheorie an positiven Gesichtspunkten anführen und in unsere westliche Realität einbringen kann.
So eigenartig das klingen mag, die ältere, von den Muslimen bewahrte Idee von der Einheit Gottes und der Einheit der Welt könnte das von vielen Menschen geforderte, die Aufklärung überwindende neue Denken der Postmoderne durchaus auch befördern. Die Vorstellung von einer prästabilen Einheit ist ja in gewisser Weise als ein Rest auch in unserem aufgeklärten Zweier-Denken enthalten, als eine Sehnsucht, auch als ein Ziel und ein Ende der Geschichte, so wie Hegel es für den Tag vorausgesehen hat, an dem das historische Spiel von These und Antithese sich in einer vollkommenen Synthese auflöst.
Der Amerikaner Francis Fukuyama (Bild) hat 1989 in seinem vielgeschmähten Artikel "The End of History" eine solche Hegel-Idylle entworfen. Er hat sie sogar halbwegs gefunden, nämlich in dem jetzt nach und nach auf die Bühne der Geschichte tretenden universal homogenous state der westlichen Gesellschaften, vornehmlich der Europäischen Union. So, wie Fukuyma diesen Staat beschreibt - marktwirtschaftlich, offen, die Menschen mit dem versorgend, was state of the art ist, außerdem gegenüber den anderen Staaten friedliebend - wird er ganz offenkundig von den mutigen jungen Leuten angestrebt, die in diesen Tagen in den nordafrikanischen Ländern auf die Straße gehen.
Nun sind sie aber auch gleichzeitig Muslime mit einem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Verständnis für Tauhid. Ob sie Ideen entwickeln werden für einen Staat, der ganz alte und ganz neue Ideen miteinander verbindet? Es wäre das Beste, was man der Welt wünschen könnte, wenn dies gelänge.
Freitag, 25. Februar 2011
Eins gegen Zwei
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1 Kommentar:
Der Horizont bei Christian abi ist durch seine hohe Bildung und Erfahrung sehr hoch. Er ist ebenfalls sehr vielseitig und behandelt gleich mehrere Themenbereiche sehr gekonnt und umfangreich. Ich finde seine Bemühungen um Verständniserzeugung von Unbekanntem auf beiden Seiten bewundernswert und nachahmungswert. Er spürt die Zeichen einer neuen Zeit und will verstehen wie die Demokratie im nahen Osten aussehen wird. Er stellt seine These einer Symbiose zwischen dem Glauben dieser Menschen mit den demokratischen Errungenschaften des Westens. ich finde seine These sehr interessant und rate politisch gebildeten, wohlwollenden Freunden über seine These nachzudenken. Allerdings denke ich, diese These kann würdig durch Fachleute formuliert und würdig diskutiert werden. Fachleute aus der Politik und Wissenschaft aus dem nahen Osten und der Türkei als der Pionier für den nahen Osten mit seiner 100 jährigen Demokratieerfahrung, könnten mit der These mehr anfangen und ich denke dass dies bereits geschieht. In dem sehr guten Zeit Beitrag http://www.zeit.de/2011/09/P-Scharia kann man fundierte Informationen lesen und beruhigt in die Zukunft schauen. Es wird alles gut werden, inschallah.
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