Sonntag, 31. Juli 2011

Sommerserie "Erzählungen der Chassidim" (VII): Die Bienen

Rabbi Rafael von Berschad sprach: "Es heißt, die Hochmütigen werden als Bienen wiedergeboren. Denn der Hochmütige spricht in seinem Herzen: 'Ich bin ein Schreiber, ich bin ein Singer, ich bin ein Lerner.' Und weil von diesen gilt, was gesagt ist, daß sie noch an der Schwelle der Hölle nicht umkehren, werden sie nach dem Tode als Bienen wieder geboren. Die summen und surren: 'Ich bin, ich bin, ich bin!'"

Donnerstag, 28. Juli 2011

Sommerserie "Erzählungen der Chassidim" (VI): Eine Stunde der göttlichen Gnade

Eine Frau pflegte zum Jom Kippur nach Berditschew zu kommen, um in Rabbi Levi Jizchaks Gemeinde zu beten. Einmal verzögerte sie sich, und als sie ins Bethaus kam, war die Nacht schon angebrochen. Die Frau grämte sich sehr; denn sie war gewiß, die Abendandacht sei schon vorüber. Aber der Rabbi hatte nicht begonnen, sondern hatte mit der staunenden Gemeinde gewartet, bis die Frau kann. Als sie merkte, daß er noch nicht Kol Nidre gesprochen hatte, geriet sie in große Freude und rief zu Gott: "Herr der Welt, was soll ich dir wünschen für das Gute, das du an mir getan hast? Ich wünsche dir, du sollst so viele Freude an deinen Kindern erleben, wie du mich jetzt hast erleben lassen!"

Da ward, während sie noch sprach, eine Stunde der göttlichen Gnade über der Welt.

Dienstag, 26. Juli 2011

Sommerserie "Erzählungen der Chassidim" (V): Wie man Lehre sprechen soll

Der Maggid von Mesritsch sprach einmal zu seinen Schülern: "Ich will euch die beste Art weisen, Lehre zu sprechen. Man soll sich selber gar nicht mehr fühlen, nichts mehr sein als ein Ohr, das hört, was die Welt des Wortes in einem redet. Sowie man aber die eigene Rede zu hören beginnt, breche man ab."

Montag, 25. Juli 2011

Sommerserie "Erzählungen der Chassidim" (IV): In der Gerbergasse

Auf einer Wanderung kam Rabbi Levi Jizchak gegen Nacht in eine kleine Stadt, von er niemand kannte. Er fand keine Unterkunft, bis ein Gerber ihn mit sich nach Hause nach. Er wollte das Abendgebet sprechen; aber der Gerbergeruch war so durchdringend, daß er kein Wort über die Lippen brachte. Er machte sich auf und ging in das Lehrhaus, in dem kein Mensch mehr war. Hier betete er nun. Und als er betete, verstand er mit einem Mal, wie die Schechina, die der Welt einwohnende Gegenwart Gottes, ins Exil herabgesunken ist und wie sie gesenkten Hauptes in der Gerbergasse steht. Er brach in Tränen aus und weinte in einem fort, bis sich sein Herz über den Gram der Schechina ausgeweint hatte und er in Ohnmacht fiel. Da erschien ihm die Schechina in ihrer Glorie, ein überstarkes Licht in vierundzwanzig farbigen Stufen, und sprach zu ihm: "Sei stark, mein Sohn! Große Nöte werden über dich kommen, du aber fürchte dich nicht; denn ich werde bei dir sein."


Anmerkung: die „Schechina“ ist hier bereits erklärt, sie leitet sich vom Verb „schachan“ ab, was „niederlassen“ bedeutet. Auch im Koran ist von der im Arabischen ähnlich klingenden „Zekina“ die Rede, der Gegenwart Gottes (u.A. in Sure 2 : 249)

Sonntag, 24. Juli 2011

Matthäus 5,5: Selig sind die sanftmütigen

Predigt 24. Juli 2011 in der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinde Bonn

Vorab herzliche Grüße aus meiner Heimatgemeinde in Remscheid. In dieser Stadt regnet es heute noch mehr als hier in Bonn und die alten Leute sprechen noch ein Platt, von dem mein Vater sagte, es sie dem Holländischen so ähnlich, dass man mit Remscheider Platt in unserem Nachbarland überall ohne Probleme zurecht käme. Mein Vater ging deshalb auch in Holland immer gerne zur Kirche und kam eines Tages sehr glücklich von dort zurück. Der Pastor hatte über die Seligpreisung der Sanftmütigen, der „Zachtmoedigen“ gesprochen und sich lange an dem alten Wort „Goedertieren“ aufgehalten, das in alten Bibeln anstelle von „zachtmoedig“ steht.

Dieses Wort bedeute, hatte der Pastor gesagt, tatsächlich so etwas wie „Gut-Tierigkeit“ und sei etwa als Eigenschaft von Pferden sehr angenehm. Vielleicht ist damals mein Interesse an diesem Wort geweckt worden.

Selig sind die sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.
Matthäus 5,5

Wenn ich Sie der Reihe nach fragen würde, was ein sanftmütiger Mensch ist, so würden die Antworten vermutlich alle recht ähnlich ausfallen. Wir haben eine konkrete Vorstellung von Sanftmut, und an der will ich heute auch nichts ändern. Ich möchte allerdings dem Wort "sanftmütig" ein paar Nuancen, ein paar Farben hinzufügen, die sich ergeben, wenn man dieses Wort einmal über mehrere Stellen der Bibel nachverfolgt. Es wird reicher und aussagekräftiger, und am Ende gibt es vielleicht sogar ein Geheimnis preis.
Das Wort von den Sanftmütigen gehört zu den Seligpreisungen der Bergpredigt. Dabei ist es gleichzeitig ein sehr altes Wort, es ist ein Zitat aus dem Alten Testament. Ich kann mir vorstellen, dass nicht nur Jesus, sondern auch seine Zuhörer damals gewusst haben, dass er hier ein Wort aus Psalm 37 benutzte.
Die Sanftmütigen werden das Land besitzen
und werden ihre Lust haben an Fülle von Heil.
Psalm 37,11
Von den acht Seligpreisungen sind sieben neu, aber eine davon, die mit den Sanftmütigen, ist ein altes und zu Jesus Zeiten sicherlich gut bekanntes Wort. Bei allem Neuen, was Jesus zu verkündigen hat, wird doch immer wieder deutlich, dass seine Lehre mit einer älteren, tieferen Quelle verbunden ist. Was er sagt, ist im alten Glauben des Volkes Israel bereits im Kern vorhanden.
Wenn wir zu Psalm 37 gehen begegnen wir dem Wort "sanftmütig" in seiner hebräischen Urfassung "anawim" - im Neuen Testament steht es ja in Griechisch geschrieben, dazu später noch mehr. Vielleicht darf ich im Folgenden bei den Bibelworten, wie von den Sanftmütigen handeln, einmal ausnahmsweise dieses Urwort benutzen und nicht seine deutsche Übersetzung. Diese ist nämlich nicht überall gleich, und kann es auch gar nicht sein. Das Wort ist in gewisser Weise unübersetzbar, und wenn man im Alten Testament nur "sanftmütig" übersetzen würde, dann blieben viele Stellen unverständlich.
Wofür steht dieses Wort? Es hat eine mehrfache Bedeutung. Von seinem Wortstamm her "anah" bezeichnet es jemand, der niedergebeugt ist. Ein Bedrückter, ein Elender - so muss man im ursprünglichen Wortsinn übersetzen.
ענה
anah
ענוים
anawim
Aber dann tritt eine zweite Bedeutung hinzu: die Anawim lernen offenbar, ihre Situation zu verstehen und anzunehmen. Und sie werden auf diese Weise demütig, und zwar wohl zunächst einmal, weil ihnen jegliche Ursache für Hochmut weggenommen wurde. Sie haben gar keine andere Wahl.
Noch später lernen sie, dass Gott ihre Demut liebt, weil er den Hochmütigen widersteht und weil ihm der Demütige angenehm ist. Und so werden sie also aus freien Stücken demütig, und werden dadurch auch in den Augen ihrer Mitmenschen angenehm, weil auch die Menschen es ja mit den Hochmütigen schwer haben. Im Ergebnis werden die Anawim im täglichen Umgang an ihrer demütigen Milde erkannt, und das ist Sanftmut, das macht die Anawim aus.
Das Hebräische, das oft für mehrere Sachverhalte nur ein einziges Wort hat, lässt diese vielfache Bedeutung stehen und erzählt die Geschichte der Anawim sozusagen in einem Wort, beginnend bei „niedergebeugt“, „elend“ und „arm“, über „demütig“ bis hin zu „sanftmütig“. Vielleicht versuchen wir heute einmal, immer alle Bedeutungen mitklingen zu lassen, wenn wir das Wort im weiteren Verlauf hören.

Mose
Die Übersetzer müssen natürlich jeweils ein einziges treffendes Wort finden. Das dadurch entstehende Problem wird gleich beim ersten großen Vertreter der Anawim in seiner ganzen Breite sichtbar. Die Rede ist von Mose, er ist einer der „anawim“. Von der einen Gruppe der Übersetzer wird die Demut dieses Mannes gepriesen. Von der anderen wird dagegen vorrangig sein Elend gesehen. Eigentlich kann nur eins davon stimmen!
Folgen wir zunächst einmal Martin Luther: in 4. Mose 12,3 wird in der Lutherbibel von Mose gesagt, er sei „ein sehr demütiger Mensch“ gewesen, „mehr als alle Menschen auf Erden.“ „Anav“ steht im hebräischen Urtext, und nicht nur Luther, sondern auch die in solchen Sachen ja immer sehr genaue Elberfelder Bibel übersetzen beide "demütig". Allerdings: die Elberfelder fügt in der Fußnote bei "oder elend".
Wir erkennen das Problem. Gibt es einen Schlüssel zur Lösung? Bei der Mose-Geschichte haben sich viele Übersetzer für „demütig“ entschieden – obwohl es natürlich ein wenig überrascht, dass gerade Mose, über dessen Jähzorn ja zuvor berichtet worden ist, als der demütigste Mensch der Welt dargestellt wird.
In 4. Mose 12 wird die Geschichte erzählt, wie eines Tages seine Schwester Mirjam und sein Bruder Aaron die Autorität des Mose infrage stellen und fast so etwas wie einen Putsch gegen ihn anzetteln. In dieser Situation kommt ihm Gott zu Hilfe und bestraft die Aufrührer. Und in dieser Geschichte wird also erzählt "Mose war ein sehr demütiger Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden".
Nun würde die zweite Möglichkeit "elend" aus der Fußnote der Elberfelder Bibel ja ebenfalls Sinn machen und bedeuten: Mose war geplagt, er hatte sozusagen das ganze Volk am Hals und musste jetzt auch noch den Widerstand seiner nächsten Verwandten erdulden.
Übersetzt man dagegen "demütig", dann macht auch das Sinn: sein Verhalten wird in einen Gegensatz zu den hochmütigen Geschwistern gestellt, die zuvor gefragt haben, ob nicht auch sie einen ganz persönlichen Zugang zu Gott und eine Leitungsfunktion für das Volk haben. Als Kontrast zum Hochmut der Geschwister ist an dieser Stelle die Demut des Mose sicherlich hervorzuheben, weshalb "demütig" hier meiner Meinung nach das richtige Wort ist.

Septuaginta
Diese Annahme bestätigt sich auch beim Blick in das Werk der berühmten Gelehrten von 200 v. Chr., die damals als Erste eine Übersetzung des Alten Testaments unternommen haben. Das waren die legendären 70 Leute der sogenannten Septuaginta, der Bibel der Siebzig, die erstmals den "Tanach", wie die Juden das Alte Testament bezeichnen, in die Weltsprache Griechisch übersetzt haben.
Sie fanden kein griechisches Wort, um die Doppelbedeutung von "anah" wiederzugeben und mussten sich deshalb immer wieder entscheiden, ob sie die Situation beschrieben, in welcher der elende und niedergebeugte Mensch war, oder ob sie seinen demütigen oder sanftmütigen Charakter beschreiben wollten. Sie haben Ersteres mit "ptochos" übersetzt, das bedeutet "bettelarm, armselig", und das zweite mit "praos", das bedeutet „sanft, milde, ruhig“. Ich habe verschiedene Konkordanzen durchblättert und gefunden, dass man Variante 1 etwa 80 mal und Variante 2 etwa 20 mal verwendet hat. Die deutschen Übersetzer haben sich oft an die Septuaginta gehalten, aber nicht immer.
Viele haben bei der Übersetzung richtiggehend gekämpft, wie etwa der bereits erwähnte Martin Luther und später seine Nachfolger in der Redaktion der Lutherbibel. Luther hat in der ersten Übersetzung 1545 geschrieben „ein seer geplagter Elender / der viel leiden muste“, in einer späteren Luther-Ausgabe von 1878 fand ich dagegen „geduldig“, 1912 heißt es dann aber wieder „ein sehr geplagter Mensch“ und 1984 erneut umgekehrt „ein sehr demütiger Mensch“. Man spürt das Ringen.
Tendenziell geht die Elberfelder Bibel stärker in die Richtung der Variante 2, also der Charakterisierung „demütig , sanftmütig“ und hat etwa – anders als die Lutherübersetzungen – in der Schlüsselstelle in Psalm 37,11 "sanftmütig" übersetzt und damit die Brücke zu den Seligpreisungen deutlich gemacht. Ich habe diese Stelle gerade in der Elberfelder Übersetzung gezeigt, bei Luther steht „die Elenden“.
Psalm 37
Psalm 37 ist eine Schlüsselstelle für ein tieferes Verständnis von „anawim“. In den Psalmen wird ja häufig beschrieben, dass Menschen elend sind und arm und dass sie darüber ein demütiges Herz und ein sanftmütiges Wesen bekommen. In den Psalmen ruft der Elende Gott um Hilfe an, und hier wird dem Sanftmütigen Rettung versprochen, und beide sind ein und dieselbe Person.
Psalm 37 beginnt damit, dass der fromme Mensch dem Übeltäter dabei zusehen muss, wie dessen böse Pläne gelingen. Der Böse hat Erfolg, der Fromme nicht. Das ist ein Grundthema im Leben der Anawim, eine Grundanfechtung, und die Psalmen geben dieses Thema vielfältig wieder.
Psalm 37 sagt dann: achte nicht auf den momentanen Erfolg des Bösen, der wird bald vergehen. Und dann erzählt er von der großen Hoffnung auf den HERRN und von seinem Versprechen, dass die Sanftmütigen (Vers 11) das Land in Besitz nehmen werden. Das ist eine Kernverheißung für die Anawim.
Gott verteilt das Land nach anderen Maßstäben als die Menschen. Das wird noch zwei weitere Male in Psalm 37 beschrieben:
Vers 22: die von ihm Gesegneten werden das Land besitzen
Vers 29: die Gerechten werden das Land besitzen
Und dann wird am Ende persönlich gesagt:
Vers 34: Harre auf den HERRN und halte seinen Weg ein, und er wird dich erhöhen, das Land zu besitzen.
Dass man auf Gott wartet, seine Gerechtigkeit, seinen Segen sucht, das gehört also zum Leben der Anawim, der Elenden, die in der Annahme ihrer Armut Gott nahe gekommen sind.
In einem Nebensatz sei erwähnt, dass aus der dritten Stelle (Vers 29) auch der Koran zitiert, Sure 21, 105 „Und wir haben in dem Buche Davids, nach der Ermahnung, geschrieben, dass meine rechtschaffenen Diener das Land erben sollen.“ Dieses Bibelzitat ist das einzige im ganzen Koran. Das unterstreicht die Wichtigkeit dieser Frage in allen Religionen: wem gehört rechtmäßig die Erde? Der Psalm sagt: den Anawim, denen, die in ihrer Armut auf Gott warten. Ihnen gehört die ganze Welt.
Mit dieser Aussage kommt nun ein weiterer Gesichtspunkt in die Geschichte der Anawim. Sie sind nicht nur die Menschen, deren sanftmütiger Charakter in Gottes Augen vorbildlich ist, sie sollen auch Herren der Erde sein, mit ihnen hat Gott große, weltgeschichtliche Ziele. Das wird in der nächsten Psalmenstelle deutlich.

Psalm 149
In Psalm 149 stehen die Anawim an einer sehr herausgehobenen Stelle. Hier, kurz vor dem strahlenden Ende der Psalmen, geht eine wichtige Anawim-Aussage schon fast im großen Jubel unter, die Aussage nämlich, dass die Gottes Volk sind, sie ganz allein.
Er hat Wohlgefallen an seinem Volk, er schmückt die Anawim mit Heil.
Psalm 149, 4
Psalm 149 steht zusammen mit Psalm 150, dem letzten Psalm, wie eine doppelte Säule am Ende der Psalmen, ganz ähnlich wie Psalm 1 und 2 eine doppelte Säule am Anfang bilden. Und in diesem besonderen Psalm 149 wird durch die Parallelität der beiden Halbsätze gesagt: die Anawim in ihrer Gesamtheit sind Gottes Volk, Gottes Volk ist mit den Anawim identisch.
Sie haben ein scharfes Schwert in der Hand, das hat diesen Psalm zu einem Lied der Revolutionäre gemacht, die im Namen Gottes der Welt ihr Verständnis von Gerechtigkeit aufzwingen wollten. Aber es spricht vieles dafür, dass dieses Schwert gleichbedeutend ist mit dem Lob, das sie singen. Der Vers 6 sagt es ebenfalls parallel: Ihr Mund soll Gott erheben, sie sollen scharfe Schwerter in ihren Händen halten. Beides ist möglicherweise als dasselbe zu verstehen, manche Mauern fallen eher durch Lieder als durch Waffen.

Sacharja 9
Noch weiter hinten in der Bibel, in den prophetischen Büchern, wird dann das Wirken der Anawim noch ein weiteres Mal gesteigert. Es kommt jetzt aus ihren Reihen ein König, ein Retter. Über ihn ist in Sacharja 9,9 berichtet.
Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel auf einem Füllen der Eselin.
Auch hier übersetzt die Elberfelder „demütig“ statt „arm“, aber wir hören den Gleichklang heraus, der sich aus dem gemeinsamen Stamm ergibt.
Wir kennen diese Stelle, sie wird bei uns oft gelesen und in der Vertonung von Händel gesungen („Tochter Zion freue dich – sei gegrüßet, König mild“).
Dieser demütige, milde König macht noch deutlicher, welche weltgeschichtlichen Ziele Gott mit den Anawim verfolgt. Das Reich dieses Königs, so prophezeit es Sacharja, wird von einem Ende der Erde zum anderen gehen, es kennt keine nationalen Grenzen mehr, es kennt auch keine Streitwagen und kein Kriegsgerät. Es ist ein Friedensreich, dessen Bürger nach denselben milden Prinzipien leben wie ihr König.
Solche Gedanken sind neu, als Sacharja sie um 500 v. Chr. ausspricht. Sie gehen einher mit einem, man könnte sagen: nationalen Elend, einer sich immer stärker zeigenden Bedeutungslosigkeit des Volkes Israel. Es ist in dieser Zeit aus dem babylonischen Exil zurückgekehrt und findet andere Völker im Lande vor, muss viele Kompromisse eingehen und vor allen Dingen eins tun: den auswärtigen Mächten drückende Steuern bezahlen.
In dieser Situation wird es schwer, alles Geschehen in der Welt weiterhin als von Gott gesteuert zu verstehen. Es wird schwer, seine Hoffnung aufrecht zu erhalten, dass in Jerusalem ein neuer Mittelpunkt der Erde entsteht. Ich stelle mir vor, dass man in diesen Zeiten gerade diejenigen Psalmen für sich entdeckt hat, in denen von den Anfechtungen die Rede ist, die von der Macht der Gottlosen ausgehen und von ihrem Erfolg. Man hat in dieser Zeit sicherlich das Buch Hiob, in dem der Gerechte ohne Grund leiden muss, mit neuen Augen gelesen.
Und dann hat man sicherlich ganz besonders auf eine Prophezeiung gehört, die ebenfalls aus der Zeit nach dem Exil stammt und zu den ergreifendsten Prophezeiungen der ganzen Bibel gehört. Es ist die Prophezeiung vom leidenden Gottesknecht, wie er am Ende des Jesajabuches beschrieben wird.

Jesaja 53
Dort lesen wir, dass ein gedemütigter Gottesknecht von allen Menschen verachtet wird und dass man annimmt, er sei von Gott geschlagen und niedergebeugt (Jesaja 53,4, in „niedergebeugt“ ist auch der Wortstamm „anah“). Aber wir sollen über ihn begreifen,
Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünden willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten.
Jesaja 53,5
Das Nachdenken der gedemütigten Anawim, ihr Reden mit Gott, ihre Auseinandersetzung mit ihm, bringt in der Zeit nach dem Exil eine neue Weltsicht hervor, von der man sicherlich ohne Übertreibung sagen kann, dass sie das damalige Denken erneuert. Es geht darum, den sogenannten Tun-Ergehens- Zusammenhang aufzugeben, das heißt eine Realität zu erkennen, in der nicht alles Gute aus der Befolgung der göttlichen Gebote und alles Schlechte aus ihrer Übertretung folgt. Man erkennt damals: es gibt Hiobs-Gestalten, die trotz ihres frommen Lebens geplagt sind, und es gibt Gestalten wie den leidenden Gottesknecht, deren Leiden niemand versteht, ja, deren elendes Leben von allen vollkommen falsch als ein Leben in der Gottesferne interpretiert wird.
Eines Tages wird ein leidender Gottesknecht tatsächlich durch seine Qualen der Welt Frieden bringen. Das liegt noch in ferner Zukunft, aber die Anawim verstehen, dass man schon heute an den Orten des Leides und des Elends Gott erleben kann.
Damals hört man erstmals den Namen Immanuel, Gott mit uns, die Offenbarung eine neuen Gottescharakters: Gott hier bei uns, Gott hier unten, hier unten mit uns. Damals beginnen die Menschen zu verstehen, dass nur das angenommene Leid, die auf sich genommene Erniedrigung, die Bejahung unserer elenden menschlichen Konstitution einen Weg eröffnet, das Geheimnis Gottes zu verstehen und mitten in den Sorgen des Alltags zu erleben.
Ich stelle mir vor, dass die Juden in dieser elenden nationalen Situation alles das, was über die Anawim gesagt wird, mit neuen Augen lesen. Sie erkennen ihr Elend nicht mehr als Durchgangsstation auf dem Weg zu einer neuen Größe des auserwählten Volkes, sie verstehen es als Ort, wo ihnen Gott begegnet und wo durch seine Nähe und seine Zuwendung das Elend aufgehoben, ja im Wesen des Gottesknechtes sogar ein Ort der Heilung wird.

Jesus
Und wenn dann am Ende Jesus auf der Erde erscheint, dann erkennen ihn als erstes die Anawim, die einfachen und armen Menschen, die ihre Armut und Schlichtheit als den Ort begriffen haben, an dem ihnen Gott begegnet. Die Welt ist durch diese Menschen auf das Kommen des Messias vorbereitet, mehr als durch die gelehrten Bibelkenner, mehr als durch die Sterndeuter und durch die Kundigen in der Prophetie.
Uns sind die namentlich bekannten Armen des Neuen Testaments lieb und vertraut, Zacharias und Elisabeth, Maria und Josef, Simeon und Hanna, die Hirten von Bethlehem, die Jünger. Über ihrem Leben war vielfach schon vor Jesu Geburt eine Vorahnung, eine Hoffnung, und als er dann vor ihnen stand und ihnen das Wort von den Sanftmütigen sagte und es nicht nur sagte, sondern auch in allem vorlebte, da wussten sie, dass sich ihre Hoffnung erfüllt hatte.
Und dann also setzt er sich hin und beginnt seine Lehre mit den Worten der Seligpreisungen.
Selig sind die ptochoi to pneumati, die Armen des Geistes, ihnen ist die Königsherrschaft des Himmels.
Matthäus 5,3
Lukas, der in Kapitel 6,20 ebenfalls die Seligpreisungen wiedergibt, unterstreicht , dass es hier auf das Hauptwort „die Armen“ ankommt, indem er überliefert, dass Jesus gesagt hat, „Selig sind die Armen“, ohne Zusatz. Die Schriftrollen in Qumran legen nahe, dass sich damals viele Menschen in einer Art von geistlicher Übung als „die Armen“ bezeichnet haben, aber mit einer Ergänzung, etwa als „die Armen der Gnade“, „die Armen deiner Erlösung“. Hierzu passt „Arme des Geistes“. Ich stelle mir deshalb vor, dass die Anawim sich bereits bei der ersten Seligpreisung erkannt und angesprochen und angenommen gefühlt haben. Sie verstehen: in der Gegenwart Jesu kommen sie an ihr Ziel.
Schluss
Mit den beiden Seligpreisungen der Armen und der Sanftmütigen sind wir wieder auf dem Berg der Seligpreisungen am See Genezareth angelangt und somit am Schluss unserer Such nach den Anawim. Ist etwas von dem Geheimnis erkennbar geworden, von dem ich am Anfang gesprochen habe? Ich denke, in diesem kleinen Wort „anawim“ ist am Ende die Geschichte eines jeden Menschen eingeschlossen, der sein Leben im Vertrauen auf Gott lebt. Vielleicht spüren wir, wie die Geschichte unseres eigenen Leids und Elends in der Geschichte dieser Armen Gottes enthalten und getragen ist.
Niemandem von uns ist Elend fremd. Jedes menschliche Leben kommt an Stationen, an denen es sich mit Verlusten abfinden muss, und diese Verluste sind oft deshalb besonders schmerzhaft, weil sie uns eine Stufe niedriger setzen, oder auch zwei oder drei. Zurückgesetzt zu werden, gedemütigt, diese Situation kennen wir alle.
Und in einer solchen Situation gehören wir zum Volk der Anawim, das es auch heute noch gibt, ganz sicher. Zusammen mit ihnen dürfen wir die Seligpreisungen hören wie am Tag, als sie erstmals gepredigt wurden. Wir dürfen den Weg vom Elend zur Sanftmut ebenfalls gehen und glauben, dass Gott mit den Menschen, die diesen Weg kennen, sein Friedensreich bauen wird.
Aber auch dann, wenn unsere Lebensfreude über lange Strecken unseres Lebens durch keine Sorge und keine Elend getrübt ist, können wir von den armen Sanftmütigen etwas lernen. Wir können ebenso wie sie den Tun-Ergehens-Zusammenhang aufgeben. Wir können aufhören, die Welt nach planvollen Systemen abzusuchen, die uns erklären, warum der eine leidet und der andere nicht. Wir kommen ja oft nicht davon los, die Welt verstehen zu wollen, einen Plan hinter den Dingen zu finden, einen Sinn.

„Sinngebungsmaschinen“ hat ein Kritiker solche Denksysteme spöttisch genannt. Wir benutzen Gott, ja wir missbrauchen ihn dafür, dass er uns diesen Sinn liefern soll.
Dabei ist Gott längst weitergegangen und hat sich den Elenden und Armen offenbart als der, der auch das tiefste Elend trägt, selbst wenn er es weder erklären noch verwandeln will oder kann. Er wird es vollständig verwandeln, eines nicht fernen Tages, das darf man für die Zukunft hoffen. Aber für heute gilt: er ist in unserem Elend bei uns, er ist der Gott-bei-uns, der Immanuel.
Deshalb können wir uns zu den Anawim stellen, können selbst zu den Armen, den Demütigen, den Sanftmütigen werden, wenn wir angesichts des Elends und angesichts der Verluste unseres eigenen Lebens aber auch angesichts unserer Unmöglichkeit, das Leid der Welt erklären zu können, uns zu Gott wenden. Wir können ihn darum bitten, uns seine Gegenwart in den Tiefen und in den ungeklärten Fragen unseres eigenen Lebens zu schenken und ihm erlauben, unser Leben als das Land in Besitz zu nehmen, in dem sein Friedensreich gebaut wird und in dem er als der sanftmütige König herrscht.
Amen

Freitag, 22. Juli 2011

Sommerserie "Erzählungen der Chassidim" (III): Das Lied der Frösche

Nach dem Tod des großen Maggids von Mesritsch saßen die Schüler beisammen und erzählten sich von seinen Taten. Als die Reihe an Rabbi Schnëur Salman kam, fragte er: "Wißt ihr, warum unser Lehrer an jedem Morgen um Sonnenaufgang zum Teich hinausging und ein weniges daran verweilte, ehe er heimkehrte?" Sie wußten es nicht. "Er lernte", sagte er, "das Lied, mit dem die Frösche Gott lobpreisen. Es dauert sehr lange, bis man dieses Lied erlernt."


Anmerkung: Dow Bär aus Mesritsch ist ein Schüler des Baalschem, „Maggid“ ist sein Ehrentitel.

Mittwoch, 20. Juli 2011

Sommerserie "Erzählungen der Chassidim" (II): Die unheiligen Gedanken beim Beten

Die Schüler des Baalschem hörten von einem Mann als von einem Weisen reden. Einige unter ihnen verlangte es, ihn aufzusuchen und seine Lehre zu erfahren. Der Meister gab ihnen die Erlaubnis; sie aber fragten weiter: "Und woran sollen wir erkennen, ob er ein wahrer Zaddik ist?" "Erbittet von ihm", antwortete der Baalschem, "einen Rat, wie ihr es anzufangen habt, damit die unheiligen Gedanken euch nicht mehr beim Beten und Lernen stören. Gibt er euch einen Rat, so wißt Ihr, daß er der Nichtigen einer ist. Denn das ist der Dienst des Menschen in der Welt bis zur Todesstunde, Mal um Mal mit dem Fremden zu ringen und es Mal um Mal einzuheben in die Eigenheit des göttlichen Namens."


Anmerkung: ein „Zaddik“ ist ein Gerechter, also etwa einer von denen, um derentwillen Gott Sodom und Gomorrha nicht zerstört hätte – wenn es nur zehn Zaddikim gewesen wären, die man dort fand. Von damals her schließen die Chassidim auf eine permanente Anwesenheit von zehn Zaddiken / Zaddikim in der Welt, sonst wäre sie längst im Zorn Gottes untergegangen. Es gehört zu den Erleuchtungsmomenten im Leben eines Chassids, wenn er einem dieser „geheimen Zaddiken“ begegnet.

Montag, 18. Juli 2011

Sommerserie "Erzählungen der Chassidim" (I): Das Gebet des Gehetzten


Das kleine Buch von Martin Buber mit den Geschichten der frommen „Chassidim“ aus dem östlichen Europa hat lange Zeit auf meinem Nachttisch gelegen und mich mit seinen Gedanken inspiriert und im Glauben ermutigt Ich denke, daß die heiligen Männer aus der Zeit zwischen 1700 und 1850 mit ihrem Leben auch heute noch ein Anreiz für jeden mit der Gegenwart Gottes rechnenden Juden, Christen oder Moslem sein können und habe deshalb meine zwölf Lieblingsgeschichten für alle abgeschrieben.
Ich beginne mit einer Geschichte, die sicherlich vielen Menschen in unserer schnellebigen Zeit eine Ermutigung ist. Die anderen Geschichten folgen mit jeweils zwei oder drei Tagen Abstand.


Das Gebet des Gehetzten

Der Baalschem sprach: "Seht euch einen Mann an, der tagsüber von seinen Geschäften durch Markt und Gassen gehetzt wird - fast vergißt er, daß es einen Schöpfer der Welt gibt. Nur wenn's Zeit ist, Mincha zu beten, geht ihm auf: ich muß beten! - und da seufzt er vom Grund seines Herzens, daß er den Tag mit Eitlem verbracht hat, und läuft in eine Seitengasse und stellt sich hin und betet: teuer, sehr teuer ist er vor Gott geachtet, und sein Gebet durchbohrt die Firmamente."



Anmerkung: Israel ben Elieser, der „Baalschem“, ist der berühmteste Chassid, seine Fähigkeit, den guten (tow) Namen (Schem) Gottes auf Mensch und Vieh zu legen, so daß er segnend und heilend wirkt, hat ihm den Ehrentitel „Baal (Herr) Schem (Name) Tow (Gut)“ eingebracht, „der Herr des guten Gottesnamens“.