Freitag, 2. November 2012

Der Paul-Theroux-Effekt

Paul Theroux
 
In den Überlegungen, ob die neuen Medien das Lernverhalten der heutigen Jugend negativ beeinflussen, kommt nach meinem Eindruck ein Effekt zu kurz, den der US-amerikanische Autor Paul Theroux einmal wie folgt beschrieben hat. Theroux war als junger Mann bei einem Uganda-Aufenthalt dem späteren Literaturnobelpreisträber V.S.Naipaul begegnet und hatte auf seinen Rat hin angefangen, ein Tagebuch zu führen, um auf diesem Weg ein echter Autor zu werden. Dieses Tagebuch hat Theroux später, als er selbst ein bekannter Schriftsteller geworden war, noch einmal hervorgeholt und ausgewertet, um ein Buch über Naipaul zu schreiben. Er hat beim Schreiben verwundert bemerkt, dass er weite Teile seines Buches aus der lebendigen und intakten Erinnerung an seine Kontakte  mit Naipaul schreiben konnte, dass er aber die Teile, für die er sich auf das Tagebuch stützen konnte, allesamt vollkommen vergessen hatte.




V.S.Naipaul
Möglicherweise ist das Programm, das regelmäßig die Daten von der Festplatte unseres Gehirns löscht, sehr genau darauf eingerichtet, alles das zu behalten, was nirgendwo sonst als in unserer Erinnerung gespeichert ist. Was dagegen auf Papier oder in anderen Medien vorhanden ist, fällt eher einem Löschvorgang zum Opfer, von dem ich gelesen habe, dass er eng mit den Schlafphasen verbunden ist, in denen wir träumen und „Rapid Eye Movements“ (REM) vollführen, also mit den geschlossenen Augen rollen, als sähen wir im Traum etwas. In diesen REM-Phasen streut ein gnädiges Vergess-Programm frischen Sand auf die in den alten Sand geschriebenen Informationen und löscht sie aus, damit man am nächsten Tag frei ist, neue Eindrücke zu speichern. Einige Erinnerungen sperren sich aber gegen das Löschen und hüpfen wie die Sandflöhe unter der Streumaschine auf, um dem Löschen zu entgehen. Oft werden diese Erinnerungen dann offenbar Teil unserer Träume.

Wenn es dieses Programm gibt, und wenn es wie so vieles in unserem Organismus vernünftig organisiert ist, dann ist der Paul-Theroux-Effekt des Vergessens von Informationen, die sozusagen „extern“ gespeichert sind, eine große Chance für alle die, von denen die heutigen Lehrer verzweifelt annehmen, sie seien aufgrund ihrer geringen Aufnahmefähigkeit für wenig Nützliches zu gebrauchen (ein Besipiel findet sich in einem New-York-Times-Artikel aus der vergangenen Woche). Vielleicht stimmt ja das Gegenteil: wer sein Wissen entweder bei Wikipedia sicher abgespeichert weiß oder es in eigenen schriftlichen Äußerungen (bei Twitter, Facebook, in Referaten, Powerpoint-Präsentationen oder sonstwo) niedergelegt und dokumentiert hat, kann dieses Wissen wieder vergessen und die Festplatte seines Gehirns so umorganisieren, dass der Arbeitsspeicher vergrößert und der Datenspeicher verkleinert wird.

Im Ergebnis kann er mit weniger Wissen mehr berechnen, kann handeln statt grübeln und bewegen statt verwalten.

Ich sage ein Beispiel: von der neuen Generation kann keiner mehr lange Gedichte auswendig, wie es meine Oma konnte. Aber jeder kann sie über Google finden, aus dem Internet kopieren und in einer Mail oder auf Facebook weitergeben. Das geschieht heute so oft, dass ich viele alte Gedichte sehr viel häufiger lese als zu Zeiten, als die Oma sie noch auswendig kannte.

Jede Generation hat eine eigene Gnade, eine eigene neue Aufgabe von Gott. Die heutige hat die Gnade des leichten Gepäcks, die Gnade der nur mit wenigen Informationen ausgefüllten Speicherplatte des eigenen Gedächtnisses - bei gleichzeitig unbegrenztem Zugang zu extern gespeichertem Wissen. Dass dies als Gnade genutzt wird, das ist jedenfalls meine Hoffnung und mein Wunsch für die Generation nach mir.


Ganz uneigennützig bin ich dabei natürlich nicht – die sollen ja mein Alter finanzieren!

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