Montag, 29. Oktober 2012

Von der Seligkeit der Quinten und (später) auch der Terzen


Jeder, der einmal ein paar Akkorde herauszufinden versucht hat, um auf dem Klavier ein einfaches Lied begleiten zu können, ist auf die Akkordfolge C – F – G gestoßen, mit der man die meisten Lieder harmonisch unterlegen kann, wenn sie nicht allzu kompliziert gemacht sind. Diese Folge lebt von dem Fünftonschritt von  G-Dur hinunter nach C-Dur und zurück, einer Quinte also, die eine Bewegung dem Ein- und Ausatmen vergleichbar erzeugt. Dabei atmet  der G-Dreiklang ein, baut eine Spannung auf und leitet sie hinüber in die Auflösung im C-Dreiklang, dem Ausatmen. Auch das F-Dur macht von C-Dur aus gesehen einen Fünftonschritt, allerdings in umgekehrter Richtung, von F hinauf nach C.

Schon in den drei einfachen Anfangsakkorden steckt also ein „Quintenzirkel“, und der macht einen großen Teil der harmonischen Seligkeiten der europäischen Musik aus, er verleiht ihr sozusagen das lebensspendende Ein- und Ausatmen. Es ist deshalb nur natürlich, dass auch der Jazz sich der Quinten bedient, in leicht abgewandter Form mit dem Ersatz des F-Dur durch das ähnlich klingende d-moll und dem entsprechenden Zirkel d – G – C.

Die Jazzmusiker haben das alte System aber in zweierlei Weise verändert. Zunächst haben sie die Akkorde auf den gewöhnlichen Tönen der Noten 1, 3 und 5, die den alten Dreiklang ausmachen, um Töne auf den Stufen 7, 9, 11 und 13 erweitert. Das war nicht ganz neu, denn Stufe 7 gehörte als „Septimakkord“ eigentlich immer schon zum neuzeitlichen Repertoire. Neu war die Hinzunahme besonders von Stufe 11 und 13* und dann das freie Schweben der erweiterten Mehrklänge in den Obertönen des Bereichs über dem eigentlichen Dreiklang. In diesem oberen Bereich entstanden neue, abweichende Drei- oder Mehrklänge und bildeten upper structures. Sie klangen oft sehr neu und manchmal dissonant, fanden sich aber, oft zum Erstaunen der Zuhörer, immer in dem alten System der unteren Akkorde, einer Art Wurzel wieder, und die bestand meistens aus d – G – C, oder allgemein gesagt aus Zwei – Fünf – Eins.
Die Zwei – Fünf – Eins (II –V – I), wie sie die Jazzmusikerer spielen, vereinigt (das habe ich bei Roman Wasserfuhr gelernt) drei Urtypen von Akkorden, den moll-Akkord (d, bzw. II), den Dur-Akkord (C, bzw. I) und den Septimakkord (G, bzw. V). Sie bilden mit ihren upper structures eine fast unerschöpfliche Quelle an musikalischen Variationen, die allesamt durch den Quintenzirkel sozusagen wurzelmäßig zusammengehalten werden und dadurch einem an diesen Zirkel gewöhnten Westeuropäer auch über Dissonanzen hinweg verständlich bleiben.
Die Jazzer haben in einem zweiten Schritt nach neuen Wegen gesucht, den alten Quintenzirkel aufzubrechen. Sie haben dabei allerdings nach meinem Eindruck den Vorteil nicht aufgeben wollen, den die innere Logik dieses Zirkels ihnen anbot und haben deshalb den roten Faden behalten, den ein Zuhörer jederzeit entlang der harmonischen Variationen nachverfolgen kann, solange der Quintenzirkel zu hören bleibt.
Eine Möglichkeit hierzu, die ich erst vor kurzer Zeit entdeckt habe, ist der Terzenzirkel des Saxophonisten John Coltrane (1926 – 1967). Im Prinzip ersetzt er d – G – C mit seinen Quinten durch den geschlossenen Zirkel von Terzen C – E – As – C, füllt dabei aber die Lücken  der dissonant und unverbunden klingenden Akkorde wieder durch alte Zwei – Fünf – Eins – Klänge auf. Das Prinzip ist einfach: jeder der drei Grundakkorde E, As oder C wird jeweils als Eins angesehen, sodann werden die Zwei und die Fünf dem Akkord vorangestellt, so dass dieser wieder aus einem alten und gewohnten System heraus erklingt:
II  -  V  - I
in Richtung E:          fis – H – E
in Richtung As:       b – Es – As
in Richtung C:         d – G – C

Damit das gleich folgende Musikbeispiel der Giant Steps von Coltrane nachvollziehbar ist, übertrage ich das obige Beispiel nach Es-Dur und füge anschließend die Noten** bei. Der Terzenzirkel ist jetzt Es – G – H – Es
II  -  V  - I
in Richtung G:         a – D – G
in Richtung H:         cis – Fis – H
in Richtung Es:        f – B  – Es



Noten:
 






























Ein Musikbeispiel als "Play Along" zum Üben:





Oder in einer Klavierstunde mit dem wunderbaren Pianisten Chick Corea:




* mehr als 13 geht nicht, die Stufe 15 entspricht wieder dem Grundton auf Stufe 1
** in Jazz-Schreibweise: das H wird als „B“ geschrieben, das B als „Bb“, a-moll ist „A-“

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