Montag, 15. Oktober 2012

Stadt und Land


Terziali. 14. Oktober 2012
Riza und ich
In Schwiegervater Rizas Gesprächen kommen die Worte "Stadt" und "Land" selten vor. Anders als bei deutschen Bauern, bei denen ich oft das Gefühl hatte, sie würden in mir, dem Städter eine besondere Kategorie von Menschen sehen und deshalb genau beobachten, wie ich ins Brot beiße oder mir die Schuhe zubinde, scheint Riza der Unterschied zwischen den beiden Lebensformen vollkommen gleichgültig zu sein. Natürlich kennt er sie, seine acht Kinder wohnen alle nicht mehr im Dorf, sondern in der nahen Kleinstadt Çayağsı oder in der 100.000-Einwohner-Stadt Kırşehir, andere wohnen noch in Ankara, Izmir, Holland oder Deutschland. Er besucht sie manchmal, hat das eine oder andere am Leben dort auszusetzen, erkennt aber ihre Lebensformen an und macht seinem Schwiegersohn Necattin auf ungewöhnlich weitsichtige Art klar, warum dieser in Deutschland mehr gebraucht wird als in der Türkei und warum er deshalb die speziellen Herausforderungen seiner neuen Heimat mutig und mit der Hilfe guter Freunde annehmen soll.



Sein ländliches Geschäft empfindet er offenbar nicht als veraltet, im Gegenteil. Mit Kindern und Enkeln baut er die Viehzucht aus, plant ein Ladengeschäft, mit erstklassigem Fleisch (das Thema "organic food" braucht er nicht anzugehen, alles was er macht ist "Bio", das ist klar, und darüber verliert er kaum Worte) und hat mit den Schwiegersöhnen, die ihm seine allesamt hübschen sechs Töchter ins Haus gebracht haben, vielfach gute Geschäftspartner ins Boot geholt.
Dass seine deutschen Enkel Scheu haben, auf sein altes Stehklo zu gehen, entlockt ihm kein kritisches Wort. Er ist ohne viel Aufhebens zu machen auf ihre Wünsche eingegangen, hat sein Haus ein wenig umgebaut und iin einem kleinen Anbau ein westliches WC und eine solargetriebener Dusche installiert. Bitte sehr, bedient euch, scheint er zu sagen.
Als ich mich zu einem kleinen Mittagsschlaf auf sein Sofa lege, finde ich eine geladene Baretta-Pistole unter dem Sofa-Kissen. Allah möge verhüten, dass er sie je benutzen muss, sagt Riza, aber sicher ist man nie. Auch eine Schrotflinte hat er, und wenn ich beim nächsten Mal etwas länger bleibe, geht er mit mir in die Berge, um Hasen und Rebhühner zu schießen. Auch Wölfe gibt es in der Gegend, scheue Tiere, vor denen man sich nicht fürchten müsse. Leider stehlen sie ihm immer wieder mal ein Schaf, aber Schwiegersohn Ramazan, der Hirte, wacht in einer in den Bergen gelegenen Stallung auch nachts über die Tiere. Er kommt oft tagelang nicht zu seiner Familie unten in der Kleinstadt, wo seine Kinder derweil am PC sitzen und Facebook-Freundschaften in der ganzen Welt pflegen.
Riza sagt, dass ein hür adam, ein freier Mensch ist, und er redet frei und fest und wird im Dorf und in der Verwandtschaft mit seinem Rat gerne gehört.
Nach Deutschland will er nur noch ungern. Dort habe er sich ohne Beherrschung der Sprache wie eingesperrt gefühlt und wäre einmal fast draußen erfroren, nachdem ihm ein Windstoß die Haustür zugeschlagen hatte und er niemandem seine hilflose Situation erklären konnte. Sieben Tage ohne einen einzigen Blick auf die Sonne haben ihn beten lassen "Allah, bist du überhaupt noch da?"
Nächstes Jahr wird er sich entscheiden müssen, da heiratet ein weiterer deutscher Enkel, und der besteht auf der Anwesenheit seines Dede. Vermutlich wird er seine Reise diesmal besser organisieren, ein Handy besorgen und seine Enkel zum Dolmetschen verpflichten. Den Bauern in der Stadt wie man ihn in alten Filmen stereotyp gezeigt hat, wird er nicht spielen wollen. 


Alte Männer vor der Cacabey-Moschee in Kirsehir
Dabei könnte Riza mit seinem Mario-Adorf-Gesicht durchaus in einem Film auftreten. Amerikaner beneiden uns Europäer um die charaktervollen Gesichter alter Italiener oder Griechen. Riza hat ein solches Gesicht. Das Leben in der neuen städtischen Welt dagegen glättet die Gesichter, vereinheitlicht sie vielleicht sogar ein wenig. Hier unter den freien Menschen in der Bergluft Zentralanatoliens werden die Züge markanter und wirken auf uns wie Boten aus einer für uns längst vergangenen Zeit. Das Land hat sein eigenes, älteres Recht als die Stadt, die alles aufsaugen und gleichmachen will. Es wird dieses Recht nie verlieren.    

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