Sonntag, 7. Oktober 2012

Ehrfurcht vor dem Bau der Heiligen Weisheit


Istanbul, 6. Oktober 2012
Die Hagia Sophia ist das älteste, noch vollkommen erhaltene und funktionsfähige Gebäude, das ich kenne. Würden man die 2.000 Jahre unserer Zeitrechnung als einen tiefen Schacht ansehen, in den ein Aufzug hinunter fährt, so käme man bei einem Viertel der Fahrt bei Martin Luther an, nach vier Zehnteln der Fahrstrecke beim Kölner Dom und müsste fast noch einmal die gleiche Strecke fahren, um bei der Hagia Sophia zu landen, die im Jahr 532 begonnen wurde.




Nach meinem Eindruck kann man besonders an den Wänden das Alter der Kirche ablesen, und zwar anhand der Abnutzung durch den nie unterbrochenen Gebrauch der Menschen, die hier 1.500 Jahre lang ein und ausgingen. Die Wände haben vielfach keine scharfen Kanten mehr, keine Konturen, keine Reliefs, die Böden ebenso. Alles wirkt wie von Millionen Händen und Füßen abgerieben und zu weichen Konturen poliert.
Es waren Gläubige aus unterschiedlichen Religionen und auch aus unterschiedlichen Konfessionen, die hier gebetet haben. 900 Jahre waren es Christen, bald 600 Jahre werden es Muslime sein, wenn man die Zeit nach 1934, als Atatürk die Moschee zum Museum machte, als muslimische Zeit weiter zählt. Außerdem ist die christliche Zeit nicht ohne Brüche – nach der Eroberung durch die Kreuzfahrer 1204 wurde die oströmische und orthodoxe Kirche erst einmal katholisch, um dann nach der Rückeroberung 1261 für weitere fast 200 Jahre wieder orthodox zu sein, so lange, bis die Muslime kamen.
Dass die Kirche an diesem Platz steht, verdankt sie unter Anderem dem Streit unter Christen. Zwei ihrer Vorgängerkirchen wurden in innerchristlichen Konflikten zerstört. Auch heute kann sie jederzeit wieder ein Zankapfel werden, wenn bestimmte muslimische Kräfte die alten Mythen vom Einfluss Mohammeds auf den Bau oder zumindest die Erhaltung der Kirche wieder aufleben lassen. Der Anspruch auf diese Kirche war schon vor der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 lebendig, fast scheint es so, dass die vielen Kuppelbauten, die nach dem Grundmuster der Hagia Sophia die klassische Form der „imperialen“ Moschee geprägt haben, die Hagia Sophia als ihrer aller Mutter in die Familie hinein holen wollen.
Ein Moslem erkennt in der Form der Hagia Sophia hinter der Kirche die Moschee. Ein Christ, der genau umgekehrt dort die Kirche aller Kirchen sieht, besonders, was den kreuzförmigen Grundriss betrifft, erkennt danach in manchen Moscheen die Kirche wieder. Vielleicht tragen solche Überkreuz-Erkenntnisse mehr zur Bescheidenheit und zum Frieden bei als zur Auseinandersetzung. Eine europäische Türkei könnte ihren Beitritt damit krönen, dass sie das Gotteshaus allen Religionen zum Gebet freigibt. 
Am Samstag war das Haus so voll, wie ich es nie zuvor gesehen habe. Es schien, als ob die ganze Welt an diesem warmen Oktobertag auf den Beinen war, um das prächtige alte Gebäude zu sehen. Trotz der großen Besucherzahlen wirkte die alte Kirche zu keinem Moment überfüllt. Für alle war Platz, ja selbst einige Nebenräume im mächtigen Ober- und Emporengeschoss behaupteten ihre erhabene Größe und Weite selbst angesichts der vielen Menschen, die sich dort um die alten Mosaike drängten. Die schiere Größe der Kirche beeindruckt immer noch, der römische Kaiser soll beim ersten Gang in den fertigen Bau vor Ergriffenheit geweint haben.

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