Istanbul, 6. Oktober 2012
Die Hagia Sophia ist das älteste, noch vollkommen erhaltene
und funktionsfähige Gebäude, das ich kenne. Würden man die 2.000 Jahre unserer Zeitrechnung
als einen tiefen Schacht ansehen, in den ein Aufzug hinunter fährt, so käme man
bei einem Viertel der Fahrt bei Martin Luther an, nach vier Zehnteln der
Fahrstrecke beim Kölner Dom und müsste fast noch einmal die gleiche Strecke
fahren, um bei der Hagia Sophia zu landen, die im Jahr 532 begonnen wurde.
Nach meinem Eindruck kann man besonders an den Wänden das
Alter der Kirche ablesen, und zwar anhand der Abnutzung durch den nie
unterbrochenen Gebrauch der Menschen, die hier 1.500 Jahre lang ein und
ausgingen. Die Wände haben vielfach keine scharfen Kanten mehr, keine Konturen, keine
Reliefs, die Böden ebenso. Alles wirkt wie von Millionen Händen und Füßen abgerieben
und zu weichen Konturen poliert.
Es waren Gläubige aus unterschiedlichen Religionen und auch
aus unterschiedlichen Konfessionen, die hier gebetet haben. 900 Jahre waren es
Christen, bald 600 Jahre werden es Muslime sein, wenn man die Zeit nach 1934,
als Atatürk die Moschee zum Museum machte, als muslimische Zeit weiter zählt. Außerdem
ist die christliche Zeit nicht ohne Brüche – nach der Eroberung durch die
Kreuzfahrer 1204 wurde die oströmische und orthodoxe Kirche erst einmal
katholisch, um dann nach der Rückeroberung 1261 für weitere fast 200 Jahre
wieder orthodox zu sein, so lange, bis die Muslime kamen.
Dass die Kirche an diesem Platz steht, verdankt sie unter
Anderem dem Streit unter Christen. Zwei ihrer Vorgängerkirchen wurden in
innerchristlichen Konflikten zerstört. Auch heute kann sie jederzeit wieder ein
Zankapfel werden, wenn bestimmte muslimische Kräfte die alten Mythen vom
Einfluss Mohammeds auf den Bau oder zumindest die Erhaltung der Kirche wieder
aufleben lassen. Der Anspruch auf diese Kirche war schon vor der Eroberung
Konstantinopels im Jahre 1453 lebendig, fast scheint es so, dass die vielen
Kuppelbauten, die nach dem Grundmuster der Hagia Sophia die klassische Form der
„imperialen“ Moschee geprägt haben, die Hagia Sophia als ihrer aller Mutter in
die Familie hinein holen wollen.
Ein Moslem erkennt in der Form der Hagia Sophia hinter der
Kirche die Moschee. Ein Christ, der genau umgekehrt dort die Kirche aller
Kirchen sieht, besonders, was den kreuzförmigen Grundriss betrifft, erkennt
danach in manchen Moscheen die Kirche wieder. Vielleicht tragen solche
Überkreuz-Erkenntnisse mehr zur Bescheidenheit und zum Frieden bei als zur
Auseinandersetzung. Eine europäische Türkei könnte ihren Beitritt damit krönen,
dass sie das Gotteshaus allen Religionen zum Gebet freigibt.
Am Samstag war das Haus so voll, wie ich es nie zuvor
gesehen habe. Es schien, als ob die ganze Welt an diesem warmen Oktobertag auf
den Beinen war, um das prächtige alte Gebäude zu sehen. Trotz der großen
Besucherzahlen wirkte die alte Kirche zu keinem Moment überfüllt. Für alle war
Platz, ja selbst einige Nebenräume im mächtigen Ober- und Emporengeschoss
behaupteten ihre erhabene Größe und Weite selbst angesichts der vielen
Menschen, die sich dort um die alten Mosaike drängten. Die schiere Größe der
Kirche beeindruckt immer noch, der römische Kaiser soll beim ersten Gang in den
fertigen Bau vor Ergriffenheit geweint haben.
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