Mein Freund
Necattin wird im Kreis seiner Familie Necdet gerufen. Das macht es einfacher,
ihn von seinem Vater zu unterscheiden, der genauso heißt und der sich hier in
Izmir ein großes Haus gebaut hat, mit schönem Blick hinunter auf die tief ins Land reichende blaue
Ägäis-Bucht, an deren östlichem Ende Izmir liegt. Kreuzfahrtschiffe fahren in
den Hafen und liegen dort am Pier, Fähren verbinden die Stadtviertel südlich
und nördlich der Fjord-ähnlichen Bucht. Es gibt immer etwas zu sehen, und am
Abend leuchten die Lichter der Vier-Millionen-Stadt zu Necattin Babas Haus
herauf. Man kann sich stundenlang auf der Dachterrasse aufhalten, so wie ich
gerade, und den milden Wind vom Meer und die Aussicht genießen.
Es fehlt hier
an nichts. Die vier Etagen haben vier Wohnungen – eine für den 70jährigen
Necattin und seine Frau Emine und je eine weitere für jedes der drei Kinder.
Diese leben allerdings alle in Deutschland und widerstehen bislang der
mediterranen Versuchung, mit ihren Ehegatten und Kindern in dieses kleine
Paradies umzusiedeln. Mama Emine vermisst sie alle, auch wenn sie offenbar ein großes
Verständnis für deren Verbindung mit dem kalten Land im Norden hat, in denen
sie alle erfolgreichen Berufen nachgehen und wenig Anstalten machen
zurückzukommen.
Necattin /
Necdet ist Apotheker, und ein ungnädiges Schicksal hat nun ausgerechnet eine
Apotheke als eine von drei Geschäften auf den kleinen Platz mit der Moschee vor
dem Haus angesiedelt. Da gehörte eigentlich ihr Sohn hinein, oder ihre Tochter, die ebenfalls Apothekerin ist, denkt Emine jeden
Tag, wenn sie auf die Eczane, die
Apotheke blickt. Wäre eine Bäckerei oder ein Schuhgeschäft dort, bliebe ihr
mancher wehmütige Gedanken erspart.
Für mich ist
dieses schöne Haus und die Hoffnungen und Wünsche, die hier wohnen, ein kleines
Symbol für die Seelenqualen, die viele Migranten und deren Kinder und Enkel
durchleiden müssen. Sie leben beständig mit den Verlockungen einer zweiten
Existenz, die entweder im Land der Väter und der Sonne wartet oder aber von
hier aus gesehen im Norden, in Deutschland, der neuen aber nicht in jeder Hinsicht
perfekten Heimat. Dort ist es zwar kalt, man kann aber Kinder und Enkel so oft
in den Arm nehmen, wie man will.
Davon machen Vater Necattin und Mutter Emine jedes Jahr für etwa vier Monate Gebrauch
und halten den Mietvertrag ihrer kleinen Wohnung in Köln am Leben.
Zum
vollkommenen Glück fehlt an jedem Ort der Welt und zu jeder Zeit etwas. Die
Griechen sagten früher, dass das Glück immer da ist, wo ich nicht bin. In
diesen warmen Herbsttagen, wo mir das Leben im Licht der Mittelmeersonne noch
einmal leicht und unbeschwert erscheint, erneuert sich mir die Hoffnung,
dass unsere lebenslange Suche nach dem Glück trotzdem nicht ganz vergeblich
ist.
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