Mittwoch, 3. Oktober 2012

Der Reiseschriftsteller


Aus einer Werbung für Tropenhelme
Immer wenn ich auf Reisen gehe, meldet sich ein kleines eisgraues Männlein bei mir und fragt mich, ob es mitfahren darf. Natürlich darf es, denn es ist mein zweites Selbst, der Reiseschriftsteller in mir. Alle meine letzten Reisen wurden durch seine Anwesenheit interessanter gemacht, das Männlein hat mich beständig daran erinnert, mir einzelne Szenen genau zu merken, mir Namen und Worte aufzuschreiben, präzise zu fotografieren und vor allen Dingen zu Hause fleißig zu recherchieren. Ich finde: das Reisen wird eigentlich erst durch die Schriftstellerei schön. Ohne sie ist es oft nicht viel mehr als ein bedrohliches Wagnis.



Solange mein großer Roman ungeschrieben bleibt, dessen erste Seiten nicht nur ich, sondern laut Ernst Jünger alle Menschen im Nachttisch liegen haben, solange müssen die kleinen Notizen im Blog und in Facebook als Ersatz herhalten, damit der Drang, meinen inneren Bewegungen Ausdruck zu verleihen, ein wenig Raum bekommt. Zu Hilfe kommt mir dabei, dass alles das, was den Roman des Lebens so schwierig und unvollendbar macht, der fehlende rote Faden nämlich, auf den die einzelnen Begebenheiten aufzureihen wären, sich bei einer Reise fast von selbst einfindet. Sie hat ja einen klaren Anfang und ein klares Ende, ein erstens-zweitens-drittens, ein Ziel und einen eindeutigen Sinn.
Und wenn man außerdem, Marcel Proust folgend, das Ideal des Schreibens in der immer wieder neu zu findenden Verbindung einer guten Beobachtung mit einer dazu passenden aber stark kontrastierenden Assoziation sieht, dann ist die Reise der ideale Schreibe-Anlass schlechthin. Sie  liefert nämlich einerseits die Möglichkeit zur Beobachtung und erzeugt dabei gleichzeitig den damit zu verbindenden Gedanken oft ganz von selbst. Die Fremdheit der beobachtenden Person am fremden Ort ist ein erster, wichtiger Kontrastfaktor, ihr eigenes Erleben ein zweiter.
Ein Beispiel: Proust hat den dicken alten Kirchturm von Illiers sehr genau und liebevoll beschrieben und dann den Gedanken angefügt, wie der sich wohl verhielte, wenn er ein Klavierspieler wäre. Das ist ein solcher Proust-Blitz, der aus dem Kontrast entsteht. Der Reiseschriftsteller kann ihn mit einfachen Mitteln ebenfalls erzeugen, indem er etwa die Schlachtfelder von Waterloo beschreibt und dabei seine eigenen hämorrhoidalen Schmerzen erwähnt, von denen er gelesen hat, dass Napoleon sie in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 1815 am selben Ort in gleicher Weise durchlitten hat. Vielleicht ist das ein schlechtes Beispiel, aber ich bin ja auch kein Proust.
Nein, ich bin kein Proust, natürlich nicht, aber niemals erscheint mir die Möglichkeit, zumindest in eine ehrfurchtsvolle Nähe zu den berühmten Vorbildern zu kommen, so nahe zu sein, wie wenn man ein Reisetagebuch zu führen beginnt, so wie sie. Ich denke an W. G. Sebalds Wanderungen, V. S. Naipauls Reisen, die Tagebücher des bereits erwähnten Ernst Jünger, und – ja – auch an Goethes italienische Reise, die auch nicht durchgängig auf dem Niveau von Faust II geschrieben ist.
Da will ich hin, oder sagen wir: wenn das Bundesliga ist, dann will ich zumindest Regionalliga spielen. Und um das zu erreichen, habe ich besonders von Sebald die Technik übernommen, der Spur einer einzelnen Person nachzugehen, die sich am Ort der Reise ebenfalls einmal aufgehalten hat. Hier setzt dann die Recherche am heimatlichen Schreibtisch an, bei welcher der moderne Reiseschriftsteller vornehmlich auf Wikipedia angewiesen ist. Ich nenne als bescheidenes Beispiel meine Geschichte des Obersten Yorck, von dem ich in einem Mecklenburger Wald ein kleines Denkmal fand, um das herum ich eine kleine Betrachtung aufgebaut habe.
Wenn man die Reise rechtzeitig plant, kann man solche Geschichten bereits zu Hause vorbereiten und muss sie vor Ort nur um das Proustsche Moment des eigenen Reise-Erlebnisses ergänzen. So kann man reisen, ohne dabei viel Erlebniszeit durch Schreibezeit zu verlieren. Denkbar wäre bei einer weiteren Verfeinerung der Technik sogar, ganz auf das Reisen zu verzichten und nur noch aus Recherchen heraus zu schreiben. Dann käme das eisgraue Männlein also eines Tages zu mir und fragte mich: "Willst du mit?" Und ich würde ihm antworten: "Fahre du schonmal alleine voraus!"  

Keine Kommentare: