Sonntag, 22. März 2015

Berliner Passion


Simon Rattle dirigiert die Johannes-Passion*
Simon Rattle und Peter Sellars
Wer sich nicht davon abschrecken lässt, dass der Chor zu Beginn auf dem Bühnenboden liegt und sich zuckend umherwälzt, wird in Simon Rattles Johannes-Passion  in ein hochemotionales Erlebnis geführt, das am Ende vermutlich keinen Zuhörer unverändert lässt. Die Kraft der Inszenierung des an einen Punker erinnernden Regisseurs Peter Sellars kommt nach meinem Eindruck aus der vollkommenen Unbekümmertheit, mit der man an die alten Quellen herangegangen ist und sie zum Fließen gebracht hat.


 Vergessen ist jede historisch-kritische Auseinandersetzung sowohl mit den Bibeltexten als auch mit der Frage, auf welchen Instrumenten man die  um 1725 entstandenen Passionen Bachs (die Matthäus-Passion hat Rattle ganz ähnlich aufgeführt) spielen sollte. Mark Padmore, der wunderbar eindringliche Evangelist, erzählt, und man glaubt ihm jedes Wort, jedes in den Bibeltexten enthaltene Detail. Alles wird lebendig, alles wird in sich logisch und verständlich. So und nicht anders muss es damals gewesen sein, als man Jesus um das Jahr 33 herum den Prozess gemacht und ihn hingerichtet hat.
Und so und nicht anders muss es gedeutet werden, wie es der am Ende ebenfalls flach auf dem Boden liegende Christian Gerhaher ersterbend wie Christus selbst singt. Bin ich durch deinen Tod von meinem eigenen Sterben frei gemacht? fragt er. Und singt selbst das letzte Wort, die lebensspendende Antwort: Ja!

Dass solche Botschaften jetzt weit außerhalb der Kirche von Menschen weitergegeben werden, von denen nicht bekannt ist, dass sie prominente Christen sind, erscheint mir eine neue Gnade Gottes zu sein. „Christus kam nur bis Eboli“ hieß es früher. Das wird jetzt aufgehoben. Christus kommt mitten nach Berlin. 

P.S. Die szenische Aufführung ermöglicht die Erfüllung eines Lieblingswunsches, den ich mir schon lange aus dem Reich der Jazz-Musik ins Reich von Bachs Oratorien herüber ersehnt hatte: das Musizieren in kleinen "Combos". Wenn das große Orchester Pause hat, ermöglicht Rattle auf der variablen Bühne das nahe Zusammenstehen von Solostimme, zwei oder drei Instrumentalisten und dem "Continuo" von kleiner Orgel und Cello. Das macht das aufeinander hörende Musizieren möglich, das im Jazz selbstverständlich ist. Oft lässt Rattle in solchen Szenen das Dirigieren ganz sein und verlässt sich auf die Genialität der kleinen Gruppe, die wunderbar lebendig (und fast immer auswendig und ohne Noten) Musik macht.

* Simon Rattle hat die szenische Matthäus-Passion 2010 aufgeführt und die Johannes-Passion in fast gleicher Besetzung vier Jahre später. Man kann beide Passionen als CD bei den Berliner Philharmonikern im Internet kaufen.

 

 

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