Samstag, 16. Januar 2016

Der grazile Gott


חֵן

Der Name meines neugeboren Enkels - Johann - bedeutet übersetzt, dass Gott gnädig ist. "chana" heißt im Hebräischen "gnädig sein". Das Wort kommt erstmals in der bekannten Sintflutgeschichte vor, wo es heißt "Noah fand Gnade ('chen') in den Augen Gottes".


Nun sollte sich jeder, dem der Gedanke fremd ist, sich einen gnädig uns betrachtenden Gott vorzustellen,  sich zumindest daran freuen, dass Gnade im Hebräischen (ähnlich wie im Englischen "grace") auch eine Eigenschaft oder Begabung des Menschen sein kann.

Eine "holdselige Frau" erlangt Ehre, übersetzt Luther ein Sprichowrt aus Sprüche 11,16. Im Original ist auch hier von "chen" die Rede, das ist eine "anmutige" Frau, wie die immer präzise Elberfelder Bibel hier auch sprachlich einmal schön übersetzt.

Mein persönliches Urbild für eine solche Frau ist die Moabiterin Ruth aus dem Alten Testament. Sie kehrt als Fremde zusammen mit ihrer jüdischen Schwiegermutter, diese ebenso verwitwet wie Ruth, aus dem fremden Land Moab nach Israel zurück. Ruth lernt dort ihren späteren Mann Boas kennen, nachdem sie sich als Erntehelferin unter dessen Gesinde gemischt hat. "Ich will sehen, ob ich 'chen' unter den Schnittern finde", sagt sie und man wundert sich, nicht, dass sie auch tatsächlich Gnade findet. Sie ist eben - sicherlich nicht nur In meiner Vorstellung - eine Frau mit einer glutäugigen Anmut und empfängt "grace", weil sie selbst grazil ist.

Dass Gott etwas gibt, auf das der Mensch auf fast gleiche Weise antworten kann, ist ein Gedanke, den ich erstmals bei Martin Buber gelesen habe. In der Erläuterung  seiner Psalmübersetzung erklärt er das Wort "chessed" als die Huld Gottes, die der Mensch mit gleicher Münze zurückzahlen kann, indem er Gott huldigt. Gott und Mensch werden im Alten Testament vielfach als Bündnispartner geschildert. Sie sind gegenseitig zur Treue verpflichtet, auch das bedeutet "chessed". Entsprechend verstehen sich die "chassiden" als besonders treue und ergebene Bündnispartner Gottes.

Es gibt auch ein griechisches Verhältniswort für die gegenseitige Beziehung zwischen Gott und den Menschen: "pistis", Glaube. Folgt man hier  der Lehrmeinung des Neutestamentlers Norbert Baumert, so finden sich in dem Wortstamm "pistis" Anklänge an die Vertrauenswürdigkeit eines Zeugen. Deshalb ist "Trauen" ein Schlüsselwort für Baumert, und er übersetzt die berühmte Stelle aus 1. Korinther 13 nicht mit "Glaube, Liebe, Hoffnung" sondern mit "Trauen, Liebe, Hoffnung".

Er geht dann sogar noch einen Schritt weiter und übersetzt etwa das "dia pisteos Jesou Christou" in Römer 3,2  nicht "durch den Glauben an Jesus Christus" (Luther und Elberfeld)  sondern "durch das Trauen Jesu Christi" und versteht es also als ein göttliches Vertrauen in den Menschen, welches durch die Versöhnung in Christus wieder möglich geworden ist.

Man muss das nicht so glauben - aber dass Gottes Eigenschaften einen Spiegel in unserer Seele haben können, daran sollte man festhalten, zum Wohle der Welt. So soll der kleine Johann also unter der Gnade Gottes aufwachsen - und mit ein paar netten Eigenschaften begnadigt werden, mit denen er Gott eines Tages zuzwinkern und sagen kann: "das haben wir beide gut gemacht, oder?"

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