Samstag, 2. Juni 2018

Das moderne Selbst – innerlich, alltäglich, natürlich



Wenn es in diesem Buch, das voll ist mit schweren philosophischen Überlegungen, etwas gibt, bei dem man anhalten, zur Ruhe kommen und ein paar Dinge verstehen kann, dann sind es immer wieder die Punkte, in denen Taylor uns die Werte vorstellt (er spricht von "goods" , also Gütern oder Gutem), die heute grenzüberschreitend vielen unterschiedlichen Menschen auf der Welt gemeinsam sind.

Taylor schildert sie in drei großen Kapiteln anhand von drei großen Bereichen.

Da ist zum ersten der Bereich der Innerlichkeit, der Hinwendung auf ein inneres Wesen, in dem unser Selbst wohnt. Dass wir in uns selbst gehen, in unserer Seele forschen, das war nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Das alte griechische Denken war eher von Dingen außerhalb von uns selbst bestimmt. Der Sinn des eigenen Lebens konnte nur erkannt werden, wenn man die Sinnhaftigkeit der äußeren Dinge, ihre Ordnung um uns herum verstanden hatte.

Das hat sich geändert – und Taylor zieht immer wieder den Kirchenvater Augustinus als den großen Botschafter der Selbsterforschung heran. Sein wichtigstes Buch heißt Confessiones, Bekenntnisse. Es ist eine Reise in das Innere der Seele. Auf dieser Reise befinden sich die heutigen Menschen noch immer.

Der zweite Bereich ist der Respekt vor dem alltäglichen Leben - "the ordinary life" bei Taylor. Hier haben schon die Mönche im Mittelalter damit begonnen, den alltäglichen Verrichtungen einen gleichen Stellenwert zu geben wie dem frommen Dienst am Altar. Später hat die Reformation die Hochschätzung der alltäglichen Arbeit weiter verstärkt, und noch später ist die Französische Revolution von dem starken Gefühl für das einfache und ungekünstelte Leben des honnête homme wesentlich geprägt worden. Dass man heute noch authentisch sein will, hat hier seine Wurzeln.

Der dritte Bereich betrifft unsere Verbundenheit mit der Natur. Hier ist Jean-Jacques Rousseau ein wichtiger Zeuge. Bemerkenswerterweise hat auch er sein wichtigstes Buch Les Confessions genannt und ist darin Augustinus gefolgt. Nach Rousseau und seiner Bewegung Zurück zur Natur hat dann kaum jemand die Kraft der Natur und ihre Expressivität so sehr zur Geltung gebracht wie die deutschen Vertreter des Sturm und Drang, Goethe und Schiller. So betont es Taylor mehrfach. Er rechnet die Klassiker zu der für ihn sehr bedeutenden Bewegung des Romanticism und legt dar, wie ihre Gedanken auch heute noch unser Selbstverständnis prägen.

Die drei großen Kapitel über die vorgenannten Punkte bilden den Hauptteil des Buches. Am Ende wird dann untersucht, wie sich alle drei Entwicklungen auf das Denken des viktorianischen 19. Jahrhunderts und dann auf die Neuzeit ausgewirkt haben.

Charles Taylor
Taylor erweist sich am Ende als der vorsichtig glaubende Christ, der sich ein wirklich tief gegründetes Selbst am liebsten als mit Gott verbunden vorstellt. Aber er spricht gleichzeitig auch ohne Berührungsängste und mit großer Hochachtung über die großen Atheisten der letzten 200 Jahre, besonders über Nietzsche.

Ihnen allen scheint auf die eine oder andere Art und Weise gemeinsam zu sein, dass sie die Würde des menschlichen Daseins mit dem Optimismus begründen, dass es mit den Menschen ein gutes Ende nehmen kann. Das gilt selbst für Nietzsche, der in der heroischen Bemühung des Übermenschen die Chance für ein positives Ziel der Geschichte sah.

Man legt das Buch aus der Hand und behält die Hoffnung, dass die in verschiedenen Kapiteln auf die unterschiedlichste Art und Weise vor unsere Augen gestellte Benevolence am Ende tatsächlich den Motor der Geschichte bildet und damit den Kern der Affirmation unseres Selbst.


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