Am ersten Adventswochenende war ich in Berlin und habe auf
dem Weg dorthin ein Buch von Heidegger zu Ende gelesen, das erste
Heidegger-Buch in meinem Leben. In Berlin war ich dann - vollkommener
Szenenwechsel - eingeladen zu einem eindrucksvollen Gospelkonzert des schwarzen
Pastors Kirk Smith. An zwei aufeinanderfolgenden Abenden war die große
Gustav-Adolf-Kirche im Berliner Norden bei seinen Konzerten bis auf den letzten
Platz gefüllt.
Vorne auf der Bühne gab es zweimal eine kleine Aufregung,
und zwar jedes Mal, wenn eins der frei herumlaufenden Kinder in Gefahr geriet,
einen Mikrofonständer umzustoßen oder die Treppen hinunter in Richtung Publikum
zu fallen. Immer gelang es dem singenden Pastor Kirk mit einer schnellen
Bewegung, die kleine Katastrophe im letzten Moment zu verhindern. Und immer
quittierte er das glückliche Ende mit einem lachenden "God is good!",
Gott ist gut.
Mein Herz erwärmte sich, meine Zweifel wollten an diesen
Stellen aber jedesmal einwenden, dass Gott nicht überall und immer gut ist.
Anderswo in der Welt stürzen Kinder und werden nicht gerettet, oder es
geschieht sogar noch schlimmeres. Aber dann kamen mir auf dem Nachhauseweg
einige der Gedanke in den Kopf, die ich bei Heidegger gelernt hatte.
Einer davon ist die Lehre von dem Wald, den man vor lauter
Bäumen nicht sieht. Heidegger sagt hier, dass nicht die Summe der Bäume den
Begriff "Wald" konstituiert, sondern dass es diesen Begriff bereits
vor dem Nachdenken über einen Wald gibt. Nur aus einem Ganzen heraus, das
Heidegger die "vorlogische Offenbarkeit des Seienden" nennt*, wird
verständlich, was ein Wald ist, und es fügen sich die unterschiedlichen Bäume
tatsächlich zu einem Wald zusammen. Durch diese vorlogische Offenbarkeit wird
das Seiende "im vorhinein ergänzt zu einem im Ganzen". Ein Gruppe von Bäumen, die man als Wald ansieht,
muss sich auf das „vorlogische“ Verständnis von Wald beziehen, um Wald zu sein.
Ist die Güte Gottes ("God is good") am Ende so
etwas wie der Wald Heideggers? Ist sie ebenfalls bereits vorher da und ist sie
auch dort da, wo ihr das fehlt, was bei Heidegger die Bäume sind, die
vorhandenen und die fehlenden? Gewiss, ohne Bäume gibt es keinen Wald, aber auch
Heideggers Wälder nicht immer komplett. Eine Lichtung im Wald kann ebenfalls „Wald“
sein, weil sie Teil eines Waldes ist. Große Wälder wie etwa der Schwarzwald
schließen Städte und Dörfer in sich ein - und sind doch als Wald "vorlogisch
offenbar".
Heidegger kämpft gegen das sich als unabhängig gebärdende
Individuum des französischen Philosophen Descartes ("Ich denke, also bin
ich") an. Er sieht im Gegensatz zu Descartes das Ich als ins Sein
"geworfen" an und aufgefordert, sich seine immer schon vorhandene „vorlogische“
Welt zu erschließen. Eine abstrakte Subjekt-Objekt-Beziehung des Einzelnen zu
seiner Welt, lehnt Heidegger ab, entsprechend auch das sich souverän gebende
Urteil des Individuums.
Vor diesem Hintergrund wäre dann meine Kritik an "God
is good" nur das Mäkeln des "vulgären Verstandes" an Dingen, die
vorlogisch, das heißt wohl auch: vorsprachlich offenbar sind.
Nebengedanke: die riesige Überzeugungskraft, die ich immer
wieder in den musikalischen Wendungen des Black Gospel gespürt habe, gehört
offenbar auch zum Bereich der Vorlogik und der "Gestimmtheit" - auch das
ein Begriff Heideggers - der uns auf ein Gebiet führt, wo das Denken beginnt
und wo die Fragen wichtiger sind als die Antworten.
* Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, Welt - Endlichkeit - Einsamkeit,
Seite 505
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