Leseprobe aus meinem Buch "Unter Menschen".
Ich bin vom ersten Tag meines Lebens an für ein Leben in einer strengen, wenn auch nicht immer in letzter Konsequenz zu lebenden Frömmigkeit erzogen worden. Es wurden mir, das machte die Sache einfach, nicht viele Alternativen dazu angeboten. Alle Menschen in meinem frühen Gesichtsfeld waren im weiten Sinn fromm. Das betraf zumindest den engeren Kreis der Familie ein. Unter den Eltern und Großeltern und aus meiner kindlichen Perspektive gesehen wohl auch unter den Onkeln und Tanten gab es niemanden, der sein Leben so führte, dass es dabei auf die Existenz Gottes nicht angekommen wäre. Alles, was diese mir nahen Menschen zu den tieferen Fragen des Lebens zu sagen hatten, schloss ganz selbstverständlich das Vorhandensein Gottes ein, daran war kein Zweifel.
Zweifel
habe ich zunächst nur bei mir selbst kennengelernt, und danach, erst viel
später auch bei denen, die ich zunächst für die starken Pfeiler des Glaubens
gehalten hatte. Meine eigenen Zweifel waren früh vorhanden, sie erwiesen sich
aber in den meisten Phasen meines Lebens als ohne große Schwierigkeiten zu
ertragen. Die für mich unübersehbaren Hinweise auf eine Existenz Gottes als der
"prima causa", der ersten Ursache aller Dinge, haben es mir immer
unmöglich gemacht, mich als einen Atheisten oder auch nur als einen Agnostiker vorzustellen.
Nun
bedeutet das nicht viel, denn der Gedanke an eine erste Ursache hilft nicht
sehr viel weiter, wenn man tiefer in das große System einzusteigen versucht,
nach dem sich die Dinge organisieren. Es folgt dann nämlich sogleich die
Schwierigkeit, von der „prima causa“ aus ein sinnvolles Gedankengebäude zur
Erklärung der Welt zu finden, und wenn nicht der Welt, so doch des eigenen,
kleinen Lebens darin.
Ein
Mittel zur Sinnstiftung lernte ich früh. Ernst Jünger hat es so beschrieben: "Das
Gebet bestätigt die Ordnung der Welt", und hat damit die fromme Handlung
gleichgesetzt mit der Zustimmung zu einem vorgegebenen Zustand, der zwar
vordergründig als ungeordnet erscheinen mag, aber in einem tieferen Sinn doch
als sinnvoll und geordnet anzuerkennen ist. Mit dieser Ordnung wurde ich ganz
früh bekannt gemacht. Schon die ersten Gebete meines Lebens, abends am Bett mit
der Mutter, dienten dazu, sich einer ruhigen und sicheren Welt zu vergewissern
und anzubefehlen, bevor man in das für Kinder ja oft Angst machende Reich der
Nacht und der Träume hinabstieg.
Noch
heute gelten meine letzten Gedanken vor dem Einschlafen regelmäßig Gott. Zwar
habe ich mir abgewöhnt, in meinem Kopf stille Gebete zu formulieren. Meine
Gedanken kamen bei solcherlei Übungen allzu sehr ins Kreisen und schweiften
immer wieder ab. Eines Tages kam mir die schreckliche Vorstellung, Gott könne
alle diese krausen Gebete auf ein Tonband aufzeichnen und mir eines Tages im
Himmel unter dem Gelächter der Engel vorspielen. Seither nenne ich meine
Nachtgedanken nicht mehr „Gebet“, aber sie kreisen weiterhin um eine
Vorstellung von Gott.
Wenn
ich trotzdem kindliche Zweifel gehabt habe, dann müssen sie schon sehr früh
bestanden haben, denn ich erinnere mich an ein Frühstück vor dem Weg in die
Grundschule, die damals Volksschule hieß, an dem ich mir still in meinem
Inneren aber mit äußerster Energie die Worte wiederholte „es gibt Gott, es gibt
Gott, es gibt Gott“. Zu meiner Überraschung entstand nach diesem drängenden
Gebet über eine längere Zeit eine tiefe Sicherheit, an der ich mich freute.
Später wich sie wieder den üblichen Zweifeln. Diese gründeten sich im
Wesentlichen wohl darauf, dass Gott nicht in direkter Rede zu mir sprach, wie
er das in der Bibel auf immer neue Weise mit seinen vertrauten Leuten tat.
Die
Welt Gottes in meinem Inneren erwies sich für mich als eine stumme Welt, in
welcher Gott selbst niemals das Wort ergriff und in der man, um ihn zu hören,
auf seine eigene innere Stimme oder auf die Stimme seiner Vertreter hier auf
Erden angewiesen war. Meiner eigenen inneren Stimme habe ich selten vertraut,
mein Kopf ist beständig in einer sehr lebhaften Wahrnehmungs- und
Denktätigkeit, da redet sozusagen alles durcheinander, und es ist unmöglich, im
Gewirr dieser Stimmen die Stimme Gottes zu hören. Was die Stimme seiner
Vertreter betrifft, so habe ich darauf allerdings oft und gerne gehört, habe
natürlich aber auch im Laufe eines langen Lebens als Kirchgänger die Technik
entwickelt, mit Gleichgültigkeit oder manchmal auch mit Entschiedenheit
wegzuhören.
Zu
meiner Freude habe ich aber schon bald entdeckt, dass es noch eine dritte
Stimme gibt, der ich mich zunehmend verschreiben konnte: der Stimme heiliger
Bücher. Das ist in erster Linie natürlich die Bibel mit allen ihren Teilen,
ihren Übersetzungen und Fußnoten. Aber es sind auch die Bücher gottesfürchtiger
Menschen, die im Ringen mit der Bibel und ihrer Bedeutung für ihr persönliches
Leben zu christlichen Vorbildern für mich geworden sind. Hier habe ich gelernt,
dass es selbst unter den scheinbar kritischen Betrachtern viele fromme Leute gibt.
Offenbar hat die Bibel eine prägende Kraft, die auf Dauer selbst solche
Menschen dazu zwingt, ehrlich mit der Bibel zu ringen, die sich ihr zunächst
kritisch oder sogar mit einem überheblichen Vorurteil genähert haben.
Nun
hat mich ganz allgemein das Lesen von Büchern von der Zeit an in den Bann
geschlagen, in der ich lesen lernte, ich erzählte schon davon. Deshalb ist es
naheliegend für mich, Gott nicht vornehmlich in der Schönheit der Natur, auch
nicht in der Musik, nicht in der Feierlichkeit eines Gottesdienstes oder der
Menschlichkeit einer warmherzigen Gemeinschaft zu suchen - obwohl ich dies
alles ebenfalls kenne - sondern im Studium seiner Bücher. Es waren immer
besonders schöne Tage in meinem Leben, wenn ich mich in der Vorbereitung auf
eine Laienpredigt vollkommen auf ein Stück der Heiligen Schrift konzentrieren
und mich mit Bibelausgaben, Konkordanzen und Kommentaren umgeben konnte, die
über mein Zimmer verstreut waren wie Hühner in einem Stall. Irgendwann habe ich
gelesen, dass jeder Mensch einen eigenen, persönlichen Zugang zu Gott hat, und
ich habe seither ohne schlechtes Gewissen diesen Zugang vornehmlich über die
Bücher gesucht und es anderen überlassen, beim Anblick eines Sonnenaufgangs „How
great thou art“ zu singen.
Meinen
Vorbildern im Glauben, den Eltern und Großeltern, bin ich für ihre
Überzeugtheit dankbar. Ich bin mittlerweile sehr sicher, dass ihre nach außen
so starke Gewissheit sie nicht in allen ihren Lebensphasen durchgetragen hat,
dass sie alle genau wie ich ihre Zweifel gehabt haben müssen. Aber ich bin
froh, dass ich zunächst einmal in der sicheren Umgebung einer scheinbar
zweifelsfreien Welt aufwachsen durfte. Es ist mit einer solchen Welt gerade so
wie mit der Schule, in der man die klaren und unumstößlichen Regeln lernt, nach
denen die Dinge sich ordnen, und in der man noch nichts davon weiß, wie sehr
das Leben außerhalb der Schule alles wieder durcheinanderbringt.
Über
meinen Vater, für den die Bibel und der sich daran orientierende Kosmos das
ordentlichste Gemeinwesen war, das man sich vorstellen konnte, kann ich mit
einer gewissen Bewunderung sagen, dass er seine Überzeugungen nicht nur uns
Kindern predigte, sondern der ganzen Welt. Dabei erfuhr man von ihm oft mehr,
wenn man ihm in die Welt folgte, etwa zu den vielen Predigtdiensten, zu denen
er im Umkreis unsere Stadt bei den unterschiedlichsten Freikirchen und
Gemeinschaften eingeladen war. Dort entwickelte er sich mehr und mehr zu einem
lebendigen und gefragten Redner. Am Tisch unseres Hauses herrschte dagegen eher
ein farbloser Alltag. Der Vater las uns mittags und abends einen Abschnitt aus
der alten Elberfelder Bibel vor und betete dann auf immer gleiche Weise für
einige Freunde und Verbündete – „Muhl, Meyer, Heller, Siebel, Siepmann, Jütt
und die Versammlungen in ihren Häusern“. Er schloss ebenso gleichförmig jeweils
mit „und wir loben und preisen deinen Namen“.
Dieses
Gebetsende habe ich, ohne es je ganz zu verstehen, auch für die Tischgebete mit
meiner eigenen Familie übernommen und freue mich an der etwas rätselhaften
Öffnung in die jenseitige Welt, die durch die Erhebung des Gottesnamens
entsteht, wobei ich mich nie entschieden habe, welcher Name hier konkret zu
nennen wäre. Am ehesten wäre es wohl der heilige und den Juden unaussprechliche
Gottesname, aber auch das vertraute „Vater“, das Jesus uns zu beten gelehrt
hat, ist denkbar.
Die
Lebenspredigt meines Vaters enthielt als Kern die schlichte Nennung des
Gottesnamens: man muss nicht mehr tun, als den Namen Gottes anzurufen, um
gerettet zu werden, und das ist eigentlich das einfachste von der Welt. Im
Propheten Joel (Kapitel 3,5) steht es so, und die Aposteln Petrus (in
Apostelgeschichte 2,21) und Paulus (im Römerbrief 10,31) wiederholen es
wörtlich. Diese Botschaft von dem einfachen Weg zu Gott hatte mein Vater auch
in ein schönes Bild umgesetzt, das er 1963 beim Einzug in unser neues, großes
Haus in der Comeniusstraße mit einiger Mühe besorgt hatte. Es ist eigentlich
kein Bild, sondern ein eisernes Relief, das rechts den gekreuzigten Christus
und links eine ebenfalls an einem Kreuz aufgehängte Schlange zeigt - die „eherne
Schlange“, die Moses in der Wüste aufhängen ließ (4. Mose 21,8), um alle
Israeliten, die ihren Blick auf diese Schlange richteten, von den tödlichen
Schlangenbissen einer plötzlich ausgebrochenen Plage zu heilen. Das Relief hing
als „Kaminplatte“ auf der verputzten Außenseite unseres offenen Kamins und war
eine beständige Erinnerung an die Botschaft des Vaters: es braucht nur ein Wort,
nur einen Blick, um Zugang zu Gottes Rettung zu finden.
Als
mein Vater 70 Jahre alt wurde, habe ich in der einzigen Rede, die ich ihm zu
seinen Lebzeiten gehalten habe, diese Botschaft wiederholt, und ich glaube,
dass es ihm gefallen hat.
Von
meiner klugen Mutter ist mir kein einziger theologischer Lehrsatz in Erinnerung
geblieben, obwohl sie uns in dieser Hinsicht sicherlich nicht unversorgt
gelassen hat. Das, was Sie mir zu sagen hatte, ist in tieferen Schichten meines
Herzens aufbewahrt, weil es wohl in Worten gesagt ist, die ich vernommen habe,
bevor ich Worte verstand. Meine Mutter wird viel über meinem Kinderbett gebetet
haben, vom ersten Tag meines Lebens an. Möglicherweise hat sie schon damals, ebenso
wie ich im späteren Leben, ihre Gebete im Stillen formuliert, so dass ich, wenn
überhaupt, nur ihr betendes Gesicht gesehen habe. Aber es hat sich etwas auf
mich übertragen, was mir auf unaussprechliche Weise bis heute bestätigt, dass
es eine Ordnung der Welt gibt und dass diese Ordnung gut ist.
Später
habe ich von dem etwas süßlichen Bild gehört, dass um die Betten eines Kindes
die Engel stehen, „zwei zu seinen Häupten“ usw., man kennt das aus dem
Abendsegen der Humperdinck-Oper. Ich habe mir das nie konkret vorgestellt, es
auch nicht konkret geglaubt, aber ich habe mein Leben so geführt, als ob es
tatsächlich so wäre. Als es dann später eine Phase gab, in der mich einige belastende
Schicksalswendungen glauben ließen, ich hätte den Engelsschutz verloren, da
habe ich ihn in schlaflosen Nächten neu gesucht und mir dafür eine Ecke meines
Bettes ausgesucht. Diese habe ich mir konkret als die Hand Gottes vorgestellt,
in die ich mich hinein schmiegen konnte, und alles konnte wieder gut werden.
Von
meiner Großmutter Lieschen, Eliese Runkel, habe ich vermutlich die Technik
gelernt, mir durch eingehämmerte Worte wie "es gibt Gott, es gibt
Gott" den Glauben zu vertiefen, denn auch sie liebte es, sich durch beständig
wiederholte Worte wie "Gott ist treu" (und dann mit Nachdruck
wiederholt: "TREU!") im Glauben zu stärken. Dabei half ihr eine
solide Ausbildung durch die Evangelische Kirche, in der sie getauft und
konfirmiert wurde, bevor sie nach ihrer Hochzeit in die kleine Freikirche
meines Großvaters wechselte. Ich habe erst als Erwachsener von diesem Wechsel
erfahren und dann auch gehört, wie sie lange Passagen des evangelischen
Katechismus auswendig hersagen konnte, im schönen Luther-Tonfall „... mit aller
Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens mich reichlich und täglich
versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und vor allem Übel behütet und
bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und
Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit."
Ihr
Glaube machte sich vornehmlich an allerlei göttlichen Rettungstaten fest, die
sie in den Wirren des Krieges und danach erlebt hatte. Am wundersam für mich
war die Geschichte von den Schuhen des Großvaters, deren Sohlen über Monate
nachweislich nicht verschlissen, obwohl der Großvater täglich weite Strecken zu
Fuß durch bombenzerstörte Gebiete gehen musste. Zusammen mit vielen anderen
Dingen des täglichen Lebens war damals für Schuhsohlen kein Ersatz zu bekommen.
Aber Gott half und hielt das Naturgesetz, nach welchem Sohlen verschleißen, für
eine Weile an.
Die
Großeltern Runkel lebten nach dem Krieg in einem behelfsmäßig gebauten kleinen
Haus ein Stück außerhalb unserer Stadt in dem Dorf Buchholzen. Dort saß der Großvater,
der nicht in Rente gehen wollte und mit 72 Jahren mitten im Arbeitsleben starb,
abends in seinem Sessel und las in einer großen, vom häufigen Gebrauch
unansehnlich gewordenen Bibel, die in einem mit braunem Klebeband verstärkten
Schuber aufbewahrt wurde. Mit seinem silbernen Vierfarbstift, den wir
staunenden Kinder gelegentlich ehrfurchtsvoll benutzen durften, markierte er
die wichtigsten Stellen in seiner Bibel und hatte in meiner Erinnerung buchstäblich
jede Seite durchgearbeitet und mit Unterstreichungen und Notizen versehen.
[...]
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