Sonntag, 13. Juni 2021

Ein Goldstück

 


Jeremia
Nachdem ich mich beim Durchlesen der gesamten Bibel durch das Buch Jeremia gearbeitet hatte, erwartete ich angesichts des Titels „Klagelieder“ im nächsten Buch eine Fortsetzung, ja Steigerung der düsteren Prophetenworte. 

Aber ich fand ein Goldstück. Zwar musste ich mich zunächst noch einmal mit der finsteren Wirklichkeit eines unsäglich gestraften Volkes unter der Geißel fremder Völker beschäftigen. Die ersten zwei Kapitel der Klagelieder steigern hier sogar noch einmal die Schilderung der Strafen, indem sie eine Art von epischem Gedicht einfügen: 22 Gruppen von je drei Versen, jeweils mit einem der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets beginnend. 

Im dritten Kapitel öffnet sich dann aber nach der ganzen Dunkelheit des Jeremia und der Klagelieder eine helle Stille, und es erklingen in Kapitel 3,22 die feierlichen Worte, die bis heute in der Christenheit als prominentes Trostwort gelesen und gerne als Tauf- oder Konfirmationsspruch verwendet werden: 

Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,

Mit diese Worten wechselt erstaunlicherweise die Perspektive der Klagelieder. Sie geht für einige Verse weg von dem Leid des von fremden Völkern unterdrückten Israel und findet stattdessen den persönlichen, intimeren Ton der Psalmen. Die Bedrückungen des Einzelnen geschehen dort eher durch persönliche Feinde im Inneren, weniger als durch feindliche Völker von Außen.

Ich gestehe hier, dass ich die Leiden des Psalmisten nie so ganz verstanden habe. Sie sind recht bildhaft – der Sturz in die Grube, das Netz des Fallenstellers, die Stiere von Baschan – und verbinden sich gedanklich vielleicht am ehesten mit den Verfolgungen des Königs David durch Saul, weil David ja über vielen Psalmen als Verfasser steht. Aber ich habe mich immer gefragt, warum sie nie von einem konkreten Unglück sprechen, etwa einer Missernte oder dem Tod eines nahen Menschen.

Im Internet las ich nun, dass nach einer jüdischen Tradition die Klagelieder zusammen mit dem Buch Hiob und dem Prophet Jeremia als einzige Bibelworte im Fall einer persönlichen Trauer vorgeschrieben sind. In der Trauer des neuzeitlichen Juden verbinden sich also zwei große Ströme:  die Grundstimmung des Psalmisten und die Grundstimmung von Jeremia und den Klageliedern. Individuelle Unterdrückung und die Unterdrückung durch fremde Völker verbinden sich zu einer Art Schicksalsmelodie, die durch die Zeiten hindurch klingt und den jüdischen Umgang mit Leid und Schmerz begründet. 

Ich dachte an ein Gebet*, das ich im Holocaust-Museum Yad Vashem an einer Wand gesehen und fotografiert habe: 

And praised. Auschwitz. Be. Majdanek. The Lord. Treblinka. And praised. Buchenwald. Be. Mauthausen. The Lord. Belzec. And praised. Sobibor. Be. Chelmno. The Lord. Ponary. And praised. Theresienstadt. Be. Warsaw. The Lord. Vilna. And praised. Skarzysko. Be. Bergen-Belsen. The Lord. Janow. And praised. Dora. Be. Neuengamme. The Lord. Pustkow. And praised… Amen. 



Der große Name steht erhaben und tröstend über allem Leid, denn die Güte des Herrn hat kein Ende und sein Erbarmen hört niemals auf.


*aus dem Buch "Le dernier des justes" (deutsch "Der Letzte der Gerechten.") 1959 von André Schwarz-Bart

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