Dienstag, 20. April 2021

Shtisel

Die Netflix-Serie hat manche frommen Christen und frommen Muslime an ihre eigene Jugend erinnert. Der eine oder andere ist mit ähnlich strengen Auflagen, was das äußere Erscheinungsbild betraf, aufgewachsen wie die frommen Orthodoxen der Serie..

"Shtisel" spielt im Milieu der "Haredim", die ihr Leben nach frommen Vorschriften führen und aussehen und auftreten, als wäre Ihnen eine höhere Macht jederzeit präsent. Die Männer sind an ihren Bärten, Schläfenlocken und steifen Hüten zu erkennen. Die Frauen hüllen ihre Körper ganz ähnlich wie die Muslime in weite Gewänder und verstecken ihr natürliches Haar. Während die Muslime hierfür ein Kopftuch benutzen, setzen die Orthodoxen eine Perücke auf oder tragen eine Art von weiter Baskenmütze.

Der Film gibt einen lebendigen Eindruck davon, wie man ein Leben führen kann, das detaillierten Auflagen folgt und in einem beständigen Studium der Bibel und der Schriften zur Bibel besteht. Der imponierende Vater Shulem Shtisel hat selbst auf seinem Küchentisch (mit Wachs-Tischtuch, einfachen Tellern und Tassen und Tupperware-Behältern) ein Lesepult stehen, auf dem viele Stunden am Tag eine aufgeschlagene Tora liegt.

Vor dem Essen wird gebetet, ja selbst vor kleinen Schlückchen Kaffee oder Wein (Alkohol ist erlaubt) wird ein kurzer Segensspruch gemurmelt. Baruch Ha Shem, gesegnet sei der Name. Ihre Bewegungen sind reguliert: Um von A nach B zu kommen, soll man möglichst schnell gehen und dabei anstreben, unsichtbar sein.

In dieses fromme Bühnenbild hinein ereignen sich Geschichten des alltäglichen Lebens – ganz wie bei Christen oder Muslimen, Säkularen oder Gläubigen. Die Reaktion der handelnden Personen ist ohne weiteres verständlich und macht sie alle sympathisch. Das sind sie selbst dann, wenn eigenartige religiöse Vorschriften ihre Handlungsfreiheit einschränken. Im Kern sind sie uns allen ähnlich, in Liebe und Leid, Freude und Trauer.

Möglicherweise ist es sogar so, dass die religiösen Vorschriften das Leben der einzelnen Personen wie in einem Brennglas erscheinen lassen und unser besonderes Interesse und unsere besondere Sympathie hervorrufen.

Und vielleicht wird dem einen oder anderen die Frage dämmern, wie unser eigenes Leben aussehen würde, wenn wir unsere Überzeugungen durch Änderung unserer Kleidung, unsere Haartracht und so weiter nach außen tragen würden. Sicherlich würden wir in einigen Situationen nicht für Dinge in Anspruch genommen werden, unter denen wir manchmal leiden – sexuelle Anzüglichkeiten etwa.

Die hübsche Elisheva wird von einem Busfahrer anzüglich angeredet. Sie hat sich auf den freien Platz hinter dem Fahrersitz gesetzt und der Fahrer stellt den Rückspiegel so ein, dass er sie gut sehen kann. „Ein schöner Anblick“ kommentiert er, woraufhin ihn Elisheva erbost anfährt „so reden Sie mit einer Orthodoxen?“ Nein, bestimmte Dinge sind in diesem Lebensbereich tabu. MeToo könnte hier nirgends ansetzen.

Meinen frommen türkischen Freunden, welche die Serie ebenfalls lieben, haben solche Szenen gefallen. Keine Sexualität keine Gewalt , das hat die Filme angenehm von dem abgesetzt, was man normalerweise im Fernsehen zu sehen bekommt.

Ob man die Handlungsweise dieser Orthodoxen jetzt besser versteht? Sind sie nicht für manche Härte gegenüber ihren arabischen Nachbarn verantwortlich? Die Serie nimmt hierzu nicht Stellung. Manchmal wird allerdings deutlich, dass die orthodoxe Community mit den „verdammten Zionisten“ wenig zu tun haben will. Den Kindern wird verboten, am Nationalfeiertag die Flugparade zu sehen (sie tun es trotzdem).

Vielleicht hilft es dem Frieden im Nahen Osten und in der ganzen Welt, wenn man gelegentlich die Möglichkeit bekommt, den politischen Gegner einmal ganz aus der Nähe zu sehen. Er verliert so ein wenig von seiner Unnahbarkeit und seinen Schrecken.


P.S. Ich habe die Möglichkeit genossen, das moderne Hebräisch im Original zu hören und in den Untertiteln übersetzt zu bekommen. Noch schöner war es, wenn die älteren Orthodoxen ins Jiddische wechselten. Das konnte man fast ohne Untertitel verstehen.

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