(1) Für alle Völker - die Herrnhuter Losung ist heute dem verheißungsvollen 56. Kapitel des Propheten Jesaja entnommen, in dem vorausgesehen wird, daß die Stadt Jerusalem eines Tages ein Bethaus für alle Völker werden soll. Es dürfen sich dann auch die Verschnittenen dort versammeln, sagt Jesaja, bei denen man sich als Europäer wohl selbst einordnen muß. Die Verschnittenen sollen im Tempel eine Hand (yad) und einen Namen (schem) erhalten (Jesaja 56,5) – yad va schem, die Juden haben davon den Namen der Holocaust-Gedenkstätte abgeleitet.
Ich freue mich, solche weiten Worte an meinem Geburtstag lesen zu können. Ich habe im letzten Jahr ein wenig vom gemeinsamen Beten der Völker erlebt und hatte schon an meinem 50. Geburtstag, den ich in Jerusalem gefeiert habe, gesehen, wie die Vorausschau des Jesaja in Erfüllung gehen könnte.
Damals hatten wir am Tag vor meinem Geburtstag, der auch 1999 auf einen Samstag fiel, vom Ölberg herunter das große Freitagsgebet der Muslime auf dem Tempelplatz angeschaut. Es war der letzte Freitag im Ramadan, und die Polizei hatte rund um die nach Zehntausenden zählende Menge der Beter den Autoverkehr wie bei einem großen Fußballspiel umgeleitet. Beim Rückweg in die Stadt gerieten wir in eine große Schar spanischer Pilger, die mit ihren weißen Hüten betend nach Jerusalem einzogen, während die Muslime zurück in die östlichen Stadtteile unweit des Ölberges strömten.
Die Menschenmenge in den engen Gassen der Altstadt wurde immer dichter, oft stockte der Fußgängerverkehr – aber mitten im Gedränge der in zwei entgegengesetzte Richtungen schiebenden Menschen war eine in meiner Erinnerung ganz friedliche Ruhe. Sie wollte so gar nicht zu den Konflikten passen, die in dieser Stadt nach den Berichten der Presse täglich ausbrechen.
Am Abend zogen dann die Juden singend und tanzend zur Western Wall des alten Tempels, zur Klagemauer, um bei Sonnenuntergang den Sabbat zu beginnen. Oben vom Tempelplatz sang gleichzeitig der Muezzin. Auch hier verlief das Nebeneinander der Frommen vollkommen ohne Störung.
(2) Für alle Völker ist diese Notiz auch als Dankeschön gedacht, und zwar für die vielen Glückwünsche, die heute zu meinem Geburtstag bei mir ankommen sind – per Telefon, Mail, Facebook, Anrufbeantworter (der ausnahmsweise am Nachmittag und Abend lief, während wir mit einigen Leuten Musik gemacht haben) und per Post.
Ich bin sozial gesehen ein fauler Mensch, gehe kaum vor die Tür und habe eine lange Liste von Leuten, die ich unbedingt mal besuchen müßte. Als Ausgleich melde ich bei den meisten von ihnen zumindest einmal im Jahr zum Geburtstag. Das bringt mir wiederum sehr viele Rückmeldungen* zu meinem Geburtstag und läßt mich einen Tag lang in der Illusion leben, ich sei der beliebteste Mensch der Welt.
Dabei würde ich wahrscheinlich bei jedem Integrations-Test durchfallen, wenn man mich dort als Mehmet Öztürk anmelden und amtlich überprüfen würde. Danke also, daß Ihr mich trotzdem nicht vergessen habt!
*Nachtrag am 10.1.: Habe aus Interesse an den Medien, in die ich eingebunden bin, eine kleine Statistik gemacht: es waren mehr als 70 Nachrichten, wenn ich pro Brief (6), Mail (16), Facebook-Eintrag (13), Anrufbeantworter-Nachricht (11), Anruf (15) und Besucher (16) je eine "Nachricht" zähle. Ich fand die relativ gleichmäßige Verteilung interessant. Im nächsten Jahr kommt dann sicherlich Twitter hinzu.