Dein Kommentar enthält eine Reihe von bedenkenswerten Aspekten. Auf zwei davon möchte ich gerne näher eingehen.
Du schreibst über das Wissensmanagement deines klugen Vaters, daß er offenkundig stärker an dem interessiert ist, was er dauerhaft wissen möchte, als an dem, was er an täglichen Informationen neu hinzufügen (und teilweise gleich wieder vergessen) kann. Bei dir sei es eher umgekehrt.
Nun frage ich mich, ob es diese Umkehrung der Verhältnisse wirklich in reiner Form gibt. Außerdem frage ich mich, ob wir diese beiden unterschiedlichen Wissensbereiche tatsächlich so bewußt managen können, wie du das sagst. Je länger ich lebe, desto mehr ärgere ich mich über die Dinge, die mir mein törichtes Gedächtnis beständig und wie von selbst hervorholt, während es andere Dinge, die mir viel wichtiger zu sein scheinen, vergißt. Jeder beobachtet sicherlich an sich selbst, wie verwirrend das sein kann.
Ich denke oft an das Beispiel eines besonders dramatisch gescheiterten Versuches, seine Erinnerung zu managen. Der englische Autor Paul Theroux hat in seinem Buch über den Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul, den Theroux über lange Phasen seines Lebens begleitet hat, davon erzählt, wie der ältere Autor Naipaul den jüngeren Theroux gleich bei einer der ersten Begegnungen angehalten hat, ein Tagebuch zu führen.
Theroux ist dem für einige Jahre gefolgt und hat die Tagebücher aus der gemeinsamen Zeit mit Naipaul dann später ausgewertet, als er das Buch über ihn geschrieben hat. Zu seinem Erstaunen hat er festgestellt, daß er alles das, was in den Tagebüchern stand, vollkommen vergessen hatte, während er sich ohne weiteres an vieles aus den Zeiten erinnern konnte, in denen er kein Tagebuch geführt hatte.
Ich schließe daraus, daß es möglicherweise ein sinnvolles Programm in unserem Kopf gibt, das uns alle Informationen löschen läßt, von denen wir annehmen können, daß sie sich ohne Mühe auf anderem Wege wiederbeschaffen lassen. Ich finde das oft in der täglichen Arbeit bestätigt, wenn ich alte Geschäftsbriefe lese und bei vielen von ihnen schwören könnte, sie nie geschrieben zu haben. So perfekt habe ich alles vergessen, was Gegenstand dieser in meinem Archiv ja sicher verwahrten Briefe war.
Hinter der Frage, was wir dauerhaft behalten oder nur kurzzeitig googeln wollen, tut sich die größere und sehr persönliche Frage auf, was sich in Zukunft aus den tieferen Schichten unseres Denkens immer wieder von selbst nach oben drängen wird, und ob es uns gelingt, dies zu kontrollieren. Von einem klugen Freund, der vor Jahren eine schwierige Phase in seinem Leben überstehen mußte, habe ich das Bild von der quälenden Waschmaschine im Kopf , die sich bei ihm in dieser Phase in schlaflosen Nächten auf immer die gleiche verstörende Weise drehte, ein paarmal links, ein paarmal rechts, ohne Ergebnis aber auch ohne die Möglichkeit, die in dieser Maschine gewendeten Gedanken in irgend einer Weise zu beeinflussen. Damit uns das nicht in ähnlicher Weise eines Tages geschieht, müssen wir wohl alle zu einer tieferen Einsicht in unser eigenes Wesen kommen, und diese Einsicht liegt jenseits der Frage, ob wir Generation Google sein wollen oder nicht.
Ein zweiter Punkt betrifft die sehr schön plakativ gestellte Frage, ob man gelegentlich nicht lieber einen Passanten anspricht, als über sein Navigationsgerät das Ziel zu finden. Natürlich ist die erste Lösung dem Zusammenhalt der menschlichen Gemeinschaft förderlicher. Andererseits lehrt gerade die Erfahrung der älteren, ohne Navigationsgeräte aufgewachsenen Generation zur äußersten Vorsicht, was die Zuverlässigkeit solcher Passanten betrifft. Ich könnte da stundenlang von furchtbare Irrfahrten erzählen, den Angaben dieser Passanten folgend, dein Vater sicherlich auch.
Ich vermute, daß sich hier auf dem Weg über viele Kompromisse bald ein Vorgehen durchsetzen wird, das menschliche Kommunikation erhält, sie aber an die Voraussetzung bindet, daß man sich vor dem Gespräch gut informiert hat. Meine Erfahrung mit der gestreßten Hotline meines Softwarelieferanten lehrt mich genau das: die Frage an den Mitarbeiter mit dem Hinweis einzuleiten, daß man alle F11- Handbücher angeklickt und mehrere Versuche zur Problemlösung bereits hinter sich hat. In der Regel schließt sich dann ein entspanntes Gespräch auf hohem Niveau an, und das aktuelle Problem ist bald gelöst.
Vielleicht noch eine letzte Bemerkung zu dem, was bei allen angesprochenen Alternativem die bessere Lösung ist. Ich fürchte: keine. Mein Interesse geht jedenfalls zunehmend nicht mehr in die Richtung, das Verhalten der modernen Menschen zu bewerten sondern einfach nur zu beobachten, wie es sich entwickelt. Zwar glaube ich nicht an eine umfassende Gültigkeit des zitierten Satzes von Karl Marx, wonach das Sein das Bewußtsein bestimmt, aber sicherlich färbt unser Sein in der Welt der Computer auf unsere Lebensweise ab.
Wenn man rechtzeitig erkennt, in welche Richtung die Änderung dieser Lebensweise geht, kann man sich klug darauf einstellen, Man kann auf diese Weise zu seinem eigenen Schutz daran mitwirken, daß die Menschen weiterhin, wie es Botho Strauss einmal gesagt hat, auf erstaunliche Weise aneinander vorbei kommen.
Samstag, 20. März 2010
Meine Antwort an "brevex"
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2 Kommentare:
Mehrfach ist nun schon Marx genannt worden, der, wie jeder weiß - ob mit oder ohne Hilfe von Guggel oder einem speziellen Marxapp - auf Hegel zurückgeht. Das Stück von Hegel wiederum, das jeder verinnerlichen sollte, ist die Herr-Knecht-Dialektik. Wann immer ein Herr-Knecht-Verhältnis auftritt, kehrt es sich zumindest teilweise um, und auch der Knecht gewinnt Macht über den Herrn. Solange es um Menschen geht, kann uns Demokraten das nur recht sei. Aber auch unsere Instrumente, die wir als unsere Knechte planen, schlagen zurück, der schlichte Hammer etwa buchstäblich auf den Finger.
Daß das Herr-Knecht-Verhältnis bei der IT-Technik sich um einiges intrkater darstellt als beim Hammer, bedarf keiner Ausführung. Es ist gar nicht klar, wer auf lange Sicht oben und wer unten, wer Herr und wer Knecht sein wird. Gruppen von Jugendlichen an Bushaltestellen, die offenbar zusammengehören, aber allesamt nur auf ihr je eigenes IPhone starren, können auch Schlimmerers erwarten lassen.
Eins vielleicht noch: den Dinge, die unser törichtes Gedächtnis wie von selbst hervorholt, verdanken wir die viertausend Seiten Proust, die wir nicht missen wollen. Proust mit einem IPhone, das wäre möglicherweise nicht gutgegangen.
in der FAZ (online-Ausgabe) gibt es eine interessante Reihe zum Thema digitales Denken. Bezüglich der Diskussion hier scheint mir
http://www.faz.net/s/RubCEB3712D41B64C3094E31BDC1446D18E/Doc~EFE324AEB56D9453787F300D7644D93D6~ATpl~Ecommon~Scontent.html
am interessanteste. Nur falls geneigte Leser dieses Blogs noch nicht selber über diese Information gestolpert ist.
Ansonsten bin ich der Meinung, daß es sich auch (oder vor allem?) aus neurophysiologischer Sicht lohnt, mal das ein oder andere Gedicht auswendig zu lernen. Denn so können wir unser biologisches Rechenzentrum sozusagen "upgraden" indem wir ein paar Synapsen hinzufügen...
Und zum Herr-Knecht Verhältnis: recht so! Was zum Beispiel passiert, wenn das IPhone ins Klo fällt, der Speicher kaputt und die Telefonnummer von Freund xy nicht mehr vorhanden? (Es sei denn als Backup auf dem PC oder Laptop) Das kann evtl. mit sehr viel mehr Arbeit oder Frust verbunden sein, als sich die Nummer entweder aufzuschreiben, oder gar auswendig zu merken. Sovieles gäbe es noch hinzuzufügen...
Liebe Grüße,
Ben
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