Sonntag, 11. November 2012

Das Obama-Modell

Barack Obama kann auf eine besondere Art und Weise Grenzen überschreiten. Wer seine Bücher gelesen hat, weiß, dass er das lange vor seinem Eintritt in die Politik gelernt haben muss. Er hat auf dem Schoß seiner weißen Großmutter gesessen und ihr halb rassistisches Geschimpfe über die Schwarzen gehört und dann wenig später das Geschimpfe der Schwarzen mitbekommen, die sich über die mangelnden Chancen beschwerten, die ihnen die weiße Mehrheitsgesellschaft anbot. Obama kennt in vielen Konflikten beide Parteien und kann ihre Motive von innen heraus beschreiben. Wenn es nach seiner Vorstellung ginge, dann würden in der Politik große Kompromisse unter der sanften Regie solcher Personen zustande kommen, die wie er das Räderwerk der unterschiedlichen Interessen intuitiv verstehen und deshalb in eine mittlere, ausgleichende Richtung lenken können.




In der Nacht nach seiner Wiederwahl hat er sein Modell noch einmal mit bewegenden Worten (hier der Text seiner Rede) der amerikanischen Nation angeboten. Sie hatte zuvor entlang immer tiefer werdenden Bruchlinien je etwa zur Hälfte Romney-konservativ und Obama-liberal gewählt und stellt sich nun der Welt als eine durch einen garstigen Graben gespaltene Nation dar. Obama hat versprochen, seine Hände über diesen Graben auszustrecken, sich mit Romney zu treffen und mit ihm über Lösungsmöglichkeiten der drängendsten Probleme zu reden. Er hat sich gewillt gezeigt, mit allen und jeden zu verhandeln, egal aus welcher politischen Richtung.

Eigenartig war dann allerdings die Reaktion meiner versammelten Linkspolitiker auf Facebook (viele meiner Freunde sind in der linken Ecke geblieben, in der ich mit 20 Jahren auch einmal war). Sie war einhellig so, dass man jetzt ein Entgegenkommen der Republikaner erwartete. Diese Teufel sollten sich endlich einmal bewegen! Das war die überwiegende Meinung.

Ich denke, dass meine linken Freunde Obama falsch verstanden haben (die rechten tun es ebenfalls, von Natur aus), und will hier einmal einige entgegenkommende Bewegungen vorschlagen, von denen ich meine, dass sie im Sinne Obamas wären. Man kann sie auch in Europa vollziehen.

1 a) Bewegung von rechts zur Mitte: man könnte sich der Mehrheit anschließen und (wie es mir der fromme Vater eines homosexuellen Sohns einmal sagte) barmherziger mit den Schwulen und Lesben umgehen als das in Kreisen konservativer Christen derzeit üblich ist.
1 b) Bewegung von links zur Mitte: man könnte sich selbst eingestehen, dass man es als ein Unglück empfinden würde, wenn das eigene Kind homosexuell wird, und könnte entsprechend die Leute nicht verteufeln, die als Ausnahme von der Regel die Möglichkeit offenhalten wollen, dass ein Homosexueller in eine selbstgewählte Therapie geht und eine Änderung versucht.

2 a ) von rechts: man könnte den linken Familienpolitikern bescheinigen, dass sie auch dann aus Liebe zum Leben handeln, wenn sie dem Leben und dem Wohlergehen der Mutter höhere Priorität einräumen, als das ein Abtreibungsgegner tut.
2 b) von links: man könnte gemeinsam mit den Abtreibungsgegnern die ganze Hässlichkeit einer Embryo-Zerstörung demonstrieren und sagen, dass man das in seinem eigenen Leib niemals zulassen würde und dass es eine Ausnahme bleiben muss.

3 a) von rechts: man könnte ein Einsehen darin haben, dass moderne Staaten immer eine bestimmte Masse an Nutznießern ihrer sozialen Systeme haben, welche diese Systeme missbrauchen.
3 b) von links: man könnte ein Einsehen darin haben, dass auch ein kühl kalkulierender Unternehmer nicht auf die Menschlichkeit und Wärme verzichten will, die in einem sozial gesicherten System allgemein herrschen.

4 a) zuletzt, von rechts: man könnte die Eigendynamik der weltweiten Migrationsbewegungen als etwas Naturgegebenes anerkennen, dem man mit Das Boot ist voll! nicht begegnen kann.
4 b) von links: man könnte an den Orten, wo nach einer intensiven Migration das Boot voll ist, Das Boot ist voll! sagen.

Nun wünschte ich mir, von rechts und links das Geräusch von knirschenden Zähnen zu hören. Das wäre ein Zeichen, dass man mich und mein selbst nachgebautes Obama-Modell verstanden hat und ernst nimmt.

1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

Es fragt sich, inwieweit es sinnvoll ist, die amerikanischen Verhältnisse hier ungefiltert zur Diskussion zu stellen. In D hätte ein Verbotsverfahren gegen die Tea Party mindestens so viel Erfolgsaussichten wie das geplante gegen die NPD.