Robert Laughlin |
An dieser Stelle möchte ich an ein Interview mit dem
Physik-Nobelpreisträger Robert Laughlin erinnern, das dieser 2007 dem „Spiegel“
gab.
Ich zeige hier den Link zum Spiegel-Artikel, weiter unten ist aber das Interview auch noch einmal in
meinen Text hinein kopiert.
Laughlin hat in dem Interview
neben vielen anderen klugen Sachen seine Theorie der „Kochrezepte“ dargelegt:
neben der exakten Wissenschaft gibt es das große Gebiet der menschlichen
Erfahrung, und hier werden vermeintlich wissenschaftlich durchdrungene Bereiche
– Laughlin nennt die Stahlproduktion und auch die Medizin – von Verfahren
beherrscht, die Kochrezepten entsprechen, also nicht auf exaktem Wissen,
sondern auf tradierter Erfahrung beruhen.
Mir gefällt diese Theorie aus einem besonderen Grund. Wo menschliche
Erfahrung wieder den Vortritt bekommt, da wird die Zuwendung des Einzelnen zu
seinem Nächsten wichtiger als die formelle und gebührenpflichtige
Therapie-Sitzung mit dem Arzt oder Psychologen. Gerade bei den Psychologen habe
ich häufig den Eindruck gehabt, dass sie den Platz einnehmen, den früher der
gute Nachbar und der geduldige Freund gehabt haben. Die haben zugehört, ihre
Lebenserfahrung eingebracht und waren hilfreich durch ihre menschliche Nähe und
Wärme und ihre Lebenserfahrung.
Vor einiger Zeit berichtete mir ein Psychologe von annähernd 600 eigenen
Psychiatrie-Sitzungen, Supervisionen unter der Leitung eines Senior-Psychologen,
die er für die Zulassung zum Psychiater benötigte (und teuer bezahlt hatte). Am Ende stand die für ihn wichtigste
Erkenntnis: es gibt Dinge, die du gut kannst, es gibt Dinge, die du gar nicht
kannst, und es gibt einen breiten Bereich, in dem du Mittelmaß bist.
Das, so dachte ich mir hinterher, würden wir eine Anzahl von
Freunden ganz ähnlich sagen – und sie haben es mir auch auf die eine oder
andere Weise mein Leben lang gesagt. Sie haben nie einen Pfennig dafür
genommen.
Es lebe die Welt der Kochrezepte und der ohne Gebühr weitergegebenen Lebenserfahrung!
Hier das Interview:
Der
Urknall ist nur Marketing
Der
Physik-Nobelpreisträger Robert Laughlin über den Irrglauben an eine Weltformel,
schwarze Magie in der Wissenschaft und das Ende der Teilchenforschung
Laughlin,
57, lehrt Theoretische Physik an der Stanford University. Im Jahr 1998 erhielt
er den Nobelpreis für seine Erklärung des sogenannten fraktionierten
Quanten-Hall-Effekts. Der Durchbruch gelang ihm während seiner Zeit am
Atomwaffenlabor Livermore. In seinem Buch "Abschied von der
Weltformel" propagiert er eine neue Ära der Physik*.
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SPIEGEL:
Herr Laughlin, in Stanford haben Sie sich einmal viel Ärger mit einer
Prüfungsfrage zugezogen ...
Laughlin:
Sie meinen die Geschichte mit dem Rostbraten?
SPIEGEL: Ja,
Sie fragten, was passieren würde, wenn ein Student von einem 56 000 km/h
schnellen Rostbraten getroffen würde. Was wäre die richtige Antwort gewesen?
Laughlin:
Bei so hohen Geschwindigkeiten verhält sich jeder Gegenstand wie ein
Wasserballon. Beim Aufprall wird das getroffene Objekt von einer Welle
durchlaufen, die noch schneller ist als das Projektil selbst. Diese Welle tritt
am Rücken aus, und wenn sie dies tut, dann bricht das ganze Objekt auseinander.
Kurzum: Der Student explodiert. Das Phänomen nennt sich Schockwelle. Aber ich
wusste natürlich, dass unsere Studenten keine Ahnung davon hatten. Auch ich kenne
mich nur deshalb damit aus, weil ich in einem Nuklearwaffenlabor gearbeitet
habe.
SPIEGEL:
Warum stellen Sie dann solche Fragen?
Laughlin:
Eines zumindest habe ich damit erreicht: Ich brauche seither keine Prüfungen
mehr abzunehmen.
SPIEGEL: Aus
einem ganz anderen Grund tauchen Schockwellen in Ihrem letzten Buch auf ...
Laughlin:
... ja, weil sie zu den sogenannten emergenten Phänomenen zählen.
SPIEGEL:
Können Sie uns das erläutern?
Laughlin:
Entscheidend ist, dass Schockwellen durch einen Prozess der Selbstorganisation
entstehen. Sie lassen sich nicht durch eine atomare Theorie der Materie
erklären. Sie gehorchen vielmehr den Gleichungen der Hydrodynamik, die das
Verhalten von Flüssigkeiten beschreiben. Aber niemand kann von fundamentaleren,
atomaren Gesetzen ausgehend beweisen, dass die Gleichungen stimmen.
SPIEGEL: Als
Emergenz bezeichnen Sie also alle Phänomene, die nicht auf atomare Gesetze
zurückführbar sind ...
Laughlin:
... ja, weil sie die Folge von Selbstorganisation der Materie sind.
SPIEGEL: Und
das scheint Ihnen so bedeutsam, dass Sie gleich eine ganz neue Ära der Physik
ausrufen, die Sie Ära der Emergenz nennen. Tragen Sie da nicht sehr dick auf?
Laughlin:
Die Leute reden nun mal gern von neuen Zeitaltern oder gar vom Ende aller
Wissenschaft. Dass eine solche Vorstellung überhaupt aufkommen konnte, liegt an
einer irreführenden Ideologie, derzufolge nur diejenigen Gesetze wirklich
zählen, die grundlegend, irgendwie fundamental sind. Und das ist im Kern eine
religiöse Idee.
SPIEGEL: Was
genau? Die Idee, dass es ein ultimatives, letztes Gesetz, eine Art Weltformel
geben müsse?
Laughlin:
Exakt. Bei uns im Westen ist diese Idee ideologisch tief verwurzelt - ganz
anders als im Fernen Osten übrigens. Derart tiefe kulturelle Wurzeln färben das
gesamte Denken ein. Sie lassen uns Dinge als offensichtlich wahrnehmen, die
keineswegs offensichtlich sind.
SPIEGEL: Was
heißt dies für das Phänomen der Emergenz?
Laughlin:
Nun, in unseren westlichen Köpfen treffen wir eine grundsätzliche
Unterscheidung zwischen fundamentalen Naturgesetzen, die schlicht da sind - und
denen, die aus anderen hervorgehen. Dabei vergisst man, dass es keinerlei
experimentelle Hinweise auf einen solchen Unterschied gibt.
SPIEGEL:
Beruhen die großen Erfolge der Physik nicht gerade auf dem Glauben an diesen
Unterschied? Darauf, dass sich jedes Phänomen durch Gesetze erklären lässt, die
sich wiederum auf noch grundlegendere Gesetze zurückführen lassen, bis man am
Ende zur Weltformel kommt?
Laughlin:
Das ist historisch falsch. Nehmen wir die Metallurgie. Sie ist ohne Zweifel von
größter Bedeutung für unseren Alltag - um Autos, Flugzeuge oder Maschinen zu
bauen. Und woraus besteht diese Wissenschaft? Aus nichts als schwarzer Magie.
Sie wurde über Jahrhunderte entwickelt zu einer wirklich raffinierten Kunst.
Aber sie beruht auf nichts als Kochrezepten.
SPIEGEL: Es
war aber doch erst die moderne Elektronentheorie der Metalle, die ein tieferes
Verständnis mit sich gebracht hat.
Laughlin:
Das ändert nichts daran, dass die Leute ihre Rezepte ausgearbeitet haben - und
zwar zu einer Zeit, als sie von der mikroskopischen Struktur keine Ahnung
hatten. Noch vor ganz kurzem gab es einen hochinteressanten Artikel über in
Metallen auftretende Spannungen - und die Autoren weigerten sich, über Atome zu
sprechen, weil die atomare Theorie für die Metallurgie irrelevant sei.
SPIEGEL:
Wird Ihrer Meinung nach die Bedeutung des tiefen Verständnisses in der gesamten
Physik überschätzt?
Laughlin:
Nicht nur in der Physik. Nehmen Sie die Medizin: Die wirklich wichtigen Fortschritte
beruhen auch da oft auf bloßen Kochrezepten, wie man gesund wird ...
SPIEGEL:
Gerade die Physiker haben aber doch stets im Kleinen das immer noch Kleinere
gesucht: Sie zerlegten Atome und fanden die Protonen; und innerhalb der
Protonen fanden sie die Quarks. Ist das in Ihren Augen keine Erfolgsgeschichte?
Laughlin:
Die Teilchenphysiker mögen interessante Ergebnisse zutage gefördert haben. Aber
all ihre Experimente wurden ja nicht aus philosophischen Gründen durchgeführt.
Niemand gibt so viel Geld für Philosophie aus. Der wahre Grund, die
Beschleuniger zu finanzieren, lag darin, sich gegen neuartige Waffen zu
versichern. Im Kalten Krieg konnten die Regierungen es nicht riskieren, dass
sich etwas entwickelt, das sie nicht unter Kontrolle hatten.
SPIEGEL: Der
Beschleuniger am Cern bei Genf ist also aus Angst gebaut worden?
Laughlin:
Exakt. Und nun schwindet diese Angst. Deshalb prophezeie ich, dass es in der
nächsten Generation sehr schwer wird, noch Geld für Beschleuniger zu kriegen.
Ich sage Ihnen: Die enormen Beträge, die solche Experimente kosten, werden
nicht als Almosen für Physiker gezahlt. Die Leute, die solche Entscheidungen
treffen, wollen nicht Geld fürs Wohl der Menschheit ausgeben. Sie wollen
wiedergewählt werden. Und die Landesverteidigung ist nun einmal für jede
Regierung dieser Welt eine wesentliche Aufgabe.
SPIEGEL: Das
ist eine sehr einseitige Sicht öffentlicher Finanzpolitik - und eine
deprimierende Ansicht über die gesellschaftliche Rolle der Physik obendrein.
Laughlin:
Ganz im Gegenteil. Ich bin sogar überzeugt davon, dass die Moral der Physik in
unserer heutigen Informationsgesellschaft von extremer Bedeutung ist.
SPIEGEL: Was
meinen Sie mit Moral?
Laughlin:
Dass die Physik Wahrheit bietet. Und mehr noch: Sie definiert Wahrheit.
SPIEGEL: Und
was ist Wahrheit? Dass das Universum im Urknall entstanden ist?
Laughlin:
Das ist Unfug. Viele Leute stellen mir quasireligiöse Fragen: Woher wir kommen,
wie das Universum entstanden ist und so weiter. Da kann ich als Physiker nur
antworten: Da bin ich kein Experte, ich bin einzig und allein ein Experte in
Sachen Experiment und Messung.
SPIEGEL:
Aber es gibt doch durchaus Messungen, die das Urknallszenario stützen: die
Rotverschiebung des Lichts ferner Galaxien, die Verteilung von Wasserstoff und
Helium im Universum ...
Laughlin:
... ja, und außerdem der Mikrowellen-Hintergrund. All das sind echte Daten.
Aber das Urknallszenario ist nur eine Art Synthese daraus, eine Theorie.
SPIEGEL: Und
was ist in Ihren Augen der Wert einer solchen Synthese?
Laughlin:
Letztlich ist das nichts als Marketing. Wenn wir unseren Kindern etwas
beibringen, dann reden wir zuerst von unseren Vorstellungen und Ideen, weil das
leichter zu verstehen ist. Aber was für mich als Physiker wirklich zählt, das
sind allein die Daten. Igor Strawinski wurde einmal gefragt, was er denn an
Beethovens Symphonien so möge. Er antwortete: ,Alle diese kleinen Noten.' Sehen
Sie, so geht es mir mit der Physik.
SPIEGEL:
Wundert es Sie, dass sich die Öffentlichkeit vor allem für die Fragen interessiert,
die Sie quasireligiös nennen?
Laughlin:
Nein, gar nicht. Deshalb gehört das Marketing ja auch dazu, wenn man bezahlt
werden will. Wir werden noch sehr viel hören von diesem
Warum-ist-das-Universum-so-wie-es-ist-Zeug.
SPIEGEL:
Auch Sie selbst haben sich doch auch schon mit der Theorie Schwarzer Löcher
befasst.
Laughlin: Oh
ja, ich habe die Vermutung aufgestellt, dass es sich bei Schwarzen Löchern in
Wirklichkeit um einen Phasenübergang der Raumzeit handelt ...
SPIEGEL: ...
eine kühne These. Und wie weit ist die entfernt von einem experimentellen Test?
Laughlin:
Sehr weit. Wahrscheinlich wäre das allenfalls möglich mit sehr großen
Teleskopen auf dem Mond.
SPIEGEL: Was
ist denn dann der Wert einer solchen Spekulation?
Laughlin:
Gar keiner. Ich wollte provozieren. Denn ich bin es satt, in Seminaren zu
sitzen und mir Spekulationen über Schwarze Löcher und Superstrings anzuhören.
Niemand redet da über Experimente. Wer wirklich originelle Dinge hervorgebracht
hat, der weiß: Du musst dich zu disziplinieren wissen. Rede nur über Dinge, die
auch messbar sind.
SPIEGEL: War
der Ärger über die StringForscher ein Anstoß für Ihr Buch?
Laughlin:
Den Anstoß hat ein Foto in einer deutschen Zeitschrift gegeben. Zu sehen waren
lauter String-Forscher, und es hieß, das seien die klügsten Leute der Welt ...
SPIEGEL: ...
kann es sein, dass es sich um dieses Foto aus dem SPIEGEL handelt?
Laughlin:
Oh, ja, ganz genau! Das hat mich verrückt gemacht, als ich es gesehen habe.
Keine einzige Behauptung von diesen Typen ist durch ein Experiment gedeckt.
Nicht ein einziger hat irgendetwas gesagt, das wahr ist! Und der König von
allen ist er hier, Stephen Hawking. Ich habe gehört, dass ihm Frauen Babys
bringen, damit er sie berührt. Dieser Mann hat einen Weg gefunden, sich zur
kulturellen Ikone zu machen. Was für ein Typ! Da kann man nur sagen: Ja,
insofern ist der wirklich einer der klügsten Leute.
SPIEGEL:
Könnten Sie sich ein Foto vorstellen, auf dem Sie inmitten der Forscher sitzen,
die Sie für die klügsten halten?
Laughlin:
Nein, auf meinem Foto dürften nur Leute sein, die Dinge gesagt haben, die wahr
sind. Und leider muss man sagen: Es wären sehr wenige. Ich weiß nicht, welches
Glaubenssystem das beste ist, um in der Wissenschaft Fortschritte zu machen.
Aber eines weiß ich ganz sicher: Egal, was Sie glauben, am Ende müssen Sie sich
fragen: Mit welchem Experiment könnte ich beweisen, dass meine Lieblingsidee
falsch ist. Und erst wenn dieses Experiment scheitert, haben Sie eine Chance,
richtig zu liegen. Und genau das fällt schwer. Denn nicht selten hängt Ihre
Karriere von der Richtigkeit Ihrer Idee ab.
SPIEGEL:
Aber wird in der Wissenschaft nicht letztlich jede Idee einem solchen Test
unterzogen, wie Sie ihn fordern?
Laughlin:
Von wegen. Nehmen Sie nur den Fall des Wissenschaftsbetrügers Jan Hendrik Schön
...
SPIEGEL: ...
dessen Betrug ja aufgeflogen ist.
Laughlin:
... aber nur, weil jemand in seinem Labor geplaudert hat. Es gab da ein
Problem, und das hatte absolut nichts mit ihm zu tun. Es ist das Problem von
Firmen, die unter wirtschaftlichem Druck stehen. Da tun oder sagen Leute
praktisch alles, nur um nicht gefeuert zu werden. Denn die Wahrheit kann
beruflicher Selbstmord sein. Deshalb darf man wissenschaftlichen Aussagen, die
in einer solchen Situation gemacht werden, niemals trauen.
SPIEGEL:
Jetzt reden Sie von einem sehr kleinen Teil des Wissenschaftsbetriebs ...
Laughlin:
Überhaupt nicht. Meine persönliche Erfahrung sagt mir, dass wir es hier mit
einem erschreckend weitverbreiteten Phänomen zu tun haben. Und es gibt sehr
viele Wege, die Unwahrheit zu sagen. Zum Beispiel kann es reichen, wahre Dinge
zu sagen, die aber irrelevant sind. Es gibt Massen von Experimenten, die
schlicht nicht testen, was sie zu testen vorgeben. Oder man behauptet,
herausgefunden zu haben, was alle ohnehin glauben. Dann können Sie ziemlich
sicher sein, dass es niemand in Zweifel ziehen wird.
INTERVIEW:
JOHANN GROLLE, HILMAR SCHMUNDT
* Robert
Laughlin: "Abschied von der Weltformel". Piper Verlag, München; 336
Seiten, 19,90 Euro.
1 Kommentar:
Der 56 000 km/h schnelle Rostbraten paßt allerdings in kein Kochrezept. Mir behagt vor allem die Formulierung einer antireduktionistischen und emergenztheoretisch ausgerichteten, sozusagen luhmannkonformen Physik.
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