Sonntag, 10. März 2013

Die Grenzen der Gewissheit







Joachim Jeremias
Am Freitag, den 1. Mai 1931 bestieg der Greifswalder Gelehrte Joachim Jeremias in Begleitung des Jerusalemer Fotografen Chalil Raad und des ebenfalls mit einer Fotokamera ausgerüsteten schwedischen Theologiestudenten Bo Giertz den Berg Garizim. Der Weg dahin war sorgfältig geplant, erstmals seit vielen Jahren gab es wieder die sich unregelmäßig bietende Gelegenheit, ein Passafest mitzuerleben, das auf einen Sabbat fiel, in diesem Fall auf Samstag, den 2. Mai*.
Jeremias wusste, dass die Samaritaner die Sabbatruhe sehr streng auslegen und deshalb die Vorbereitungen auf das nächtliche Passamahl spätestens mit dem Sonnenuntergang des 1. Mai beenden würden. Danach begann der Sabbat, an dem kein Werk, auch kein frommes, verrichtet werden durfte. Fiel das Passafest auf einen Wochentag, so durfte man auch noch in der Nacht an den Vorbereitungen des Essens weiterarbeiten, es war zwar ein Feiertag, aber kein Sabbat mit seinem Arbeitsverbot. An einem Sabbat dagegen ruhten nach dem Untergang der Sonne alle Tätigkeiten.

Zwei Ergebnisse wollte Jeremias vom Garizim mit nach Hause nehmen: zum einen wollte er das Tageslicht nutzen und Fotos von den Opferhandlungen bekommen, ohne dabei, wie an einem gewöhnlichen Sabbat, künstliches Licht benutzen und die Feiern stören zu müssen. Zum anderen wollte er in allen Einzelheiten festhalten, wie die Vorschriften für ein solches Fest variiert  werden, wenn sie mit den Sabbatgeboten kollidieren.

Mit der Klärung dieser Frage ließe sich vielleicht ein anderes Problem lösen, das in der gesamten Kirchengeschichte virulent war, aber nie befriedigend zu Ende gebracht wurde. Es ging um die Frage, ob Jesus an einem Passafest gestorben ist oder erst an dem Tag danach. Die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas berichten von der ersten Version, dass nämlich der Todestag das Passafest war. Der Evangelist Johannes legt dagegen die Kreuzigung auf den Tag vor dem Passa. Da allerdings von allen vier Evangelisten übereinstimmend als Wochentag der Freitag genannt wird (was die christliche Tradition, den Karfreitag zu feiern, fest begründet), entspräche die Konstellation, von der Johannes berichtet, genau der Konstellation vom Mai 1931: Passa an einem Sabbat.
Und wenn es dann zu Jesu Passion – Hypothese einiger Ausleger, die alle Evangelien-Berichte harmonisieren wollten – aufgrund der Sabbatvorschriften zu einem veränderten Termin für das Passamahl gekommen wäre, nämlich zu einer Vorverlegung auf den Vorabend, also den Donnerstag, dann wäre auch bei Johannes das letzte Abendmahl ein echtes Passamahl gewesen, auch wenn es nach seinem Bericht 24 Stunden vor dem üblichen Zeitpunkt stattfand.
Jeremias muss feststellen, dass die Samaritaner auf dem Garizim dem Evangelisten Johannes nicht den Gefallen tun, seine abweichende Datierung verständlich zu machen. Sie essen wie in jedem Jahr in der Nacht des Sabbats, nicht 24 Stunden früher. Sie ziehen lediglich das Schlachten, Kochen und Braten soweit vor, dass sie am Freitagnachmittag damit beginnen und vor Anbruch der Dunkelheit damit fertig sind. Die Fotos, erstes Reiseziel, gelingen also. Ein Passamahl, das um einen ganzen Tag verschoben wäre, zweites Ziel, kann aber nicht nachgewiesen werden.
Joachim Jeremias hatte eine besondere Nähe zum Heiligen Land. Er war als Kind fünf Jahre in Jerusalem, im Haus seines Vaters, der zwischen 1910 und 1918 Pfarrer der „Evangelischen Gemeinde Deutscher Sprache zu Jerusalem“ war. Seit 1898 war diese Gemeinde im Besitz eines prächtigen Gebäudes, der Erlöserkirche in der Jerusalemer Altstadt, zu deren Einweihung der deutsche Kaiser eigens in Heilige Land gekommen war. Aus seiner Hand empfing der Vorvorgänger von Vater Jeremias das Recht, sich „Probst“ nennen zu dürfen, also eine Stellung knapp unterhalb eines Bischofs zu bekleiden. 
Nach Studentenjahren in Tübingen und Heidelberg erwarb sich der junge Jeremias gleich zwei Doktortitel: mit 22 Jahren in Philosophie und mit 23 in Theologie. Mit 29 war er ordentlicher Professor der Theologie in Greifswald und als solcher machte er sich auf die Reise zum Garizim. Er war 30 Jahre alt, als er im Heiligen Land ankam und ein vielversprechender Wissenschaftler, auf dem Weg, einer der bekanntesten Theologen des 20. Jahrhunderts zu werden.
Jeremias hat seine in der Kinderzeit erworbenen guten Kenntnisse der Örtlichkeit dafür eingesetzt, seinen wissenschaftlichen Fragen akribisch nachgehen zu können. Seine philosophische Doktorarbeit schrieb er über „Jerusalem zur Zeit Jesu“, seine theologische  Beschäftigung war vielfach auf das Bestreben konzentriert, aus der Kenntnis örtlicher Sitten und aus dem Gespür für sprachliche Feinheiten dasjenige aus dem Neuen Testament herauszuhören, was als authentisches Jesus-Wort angesehen werden konnte. „Ipsissima vox Jesu“, die ureigenste Stimme Jesu, auf ihr Finden hatten sich damals viele Theologen verpflichtet, und Jeremias war vielleicht derjenige mit dem feinsten Instrumentarium dafür.
Späteren Generationen von biblischen Gelehrten ist der hier erkennbare Optimismus, die wissenschaftlichen Methoden so ausreichend verbessern zu können, dass Jesu Rede einwandfrei aus dem Gewirr anderer Stimmen herauszuhören war, dann wieder verloren gegangen. Kein geringerer als der Papst hat (in seinem zweiten Jesusbuch) die Arbeit von Joachim Jeremias abschließend gewürdigt und gleichzeitig insgesamt beiseite geschoben. Benedikt hat das Bemühen durchaus anerkannt, „…den sicheren Fels des Glaubens zu finden: Was Jesus wirklich gesagt hat, darauf können wir bauen.“ Aber er hat dann geschlossen: „Obwohl die Ergebnisse von Jeremias nach wie vor bedeutend und – wissenschaftlich gesehen – von hohem Gewicht sind, gibt es begründete kritische Anfragen, die zumindest zeigen, dass die erreichte Gewissheit ihre Grenzen hat.“
Grenzen der Gewissheit – die Reise zum Garizim war 1931 ohne Zweifel noch ganz von der hellen Erwartung getragen, dass man für heikle Probleme der christlichen Tradition, wie der Frage nach der eigentlichen Fundierung und damit nach dem Sinn des Abendmahles, recht bald eine Lösung finden würde. Vor dieser Zeit waren die Deutungen aufgrund der Differenzen in den Berichten „überwuchert von einem Dickicht einander widersprechender Hypothesen“, um es auch hier in der schönen und bildhaften Sprache des Papstes zu sagen. Aber nun würde man mit modernen Methoden auf den tiefsten Grund der Passageschichte hinunter gehen und dazu den Ritus der einzigen Religionsgemeinschaft des Volkes Israel mit ununterbrochener Tradition noch einmal so präzise erforschen, dass danach auf das christliche Abendmahl ein neues Licht fallen würde.
Jeremias dokumentiert in einem schmalen braunen Heft mit Pappeinband seinen Besuch mit zahlreichen Fotos und stellt am Ende Überlegungen zu einem Passaritus an, der sogar noch älter wäre als die aus dem fünften Mosebuch überlieferten, in Jerusalem zur Zeit Jesu gepflegten Traditionen.
Nach meinem Eindruck gewinnt er aber tatsächlich nur ein undeutliches Bild und muss in seinem wenige Jahre später erscheinenden Buch „Die Abendmahlsworte Jesu“ (1935) die unterschiedlichen Deutungen referieren ohne eine davon am Ende als die einzig richtige herausstellen zu können.
Andere Forscher sind Jeremias auf den Garizim gefolgt. Einer seiner Schüler, der 1928 geborene Günter Lüling, ist nach ihm noch sehr viel tiefer in den Brunnen der Vergangenheit gestiegen und hat allerhand dunkle Hypothesen über eine Verwandtschaft des Garizimkultes zur Baalsverehrung im Lande Kanaan aufgestellt, die man als Christ nicht ohne leichtes Grauen lesen kann. Nach Lüling ist der in der Bibel immer als Sinnbild des Heidentums dargestellte Baalskult nicht als Gegner, sondern als Vorläufer des jüdischen Glaubens anzusehen. Das Bild des Baal als eines Frühlingsgottes geht demnach im israelischen Gottesbild auf, die Baalsfeiern werden zum Frühlingsfest Passa. Man muss angesichts solcher Grenzüberschreitungen, die geradewegs, über eine gemeinsame frühlingshafte Wiedergeburt, den heidnischen Baal mit Jesus verbinden wollen,  schon das weite Herz des Papstes haben, der die Mythen nicht als Konkurrenten fürchtet, sondern sie als Vorbilder des christlichen Glaubens deutet. Die Mythen warten, sagt er, auf Jesus.
Man kann sich aber auch kurzerhand allen Spekulationen entziehen und sein Wissen bekennen, dass man nichts weiß. Es mag eigenartig erscheinen, aber zu unserer an Wissen so reichen Gegenwart gehört mittlerweile wohl auch die Skepsis, die sich aus der Erkenntnis der Grenzen unserer Gewissheit ableitet. Vieles ist in den stürmischen Jahren nach der Aufklärung mit dem Optimismus begonnen worden, dass man recht bald die letzten weißen Flecken auf der Landkarte des Wissens tilgen würde. Aber manche dieser Flecken haben sind als resistent erwiesen, manches Forschungsgebiet hat sein Geheimnis für sich behalten.
Mir erscheint der Garizim mit seinen archaischen Felsfragmenten, die den Weg zu den ältesten biblischen Opfer- und Segnungsstätten weisen, ein Urbild solcher Geheimnisse zu sein. 

*das jüdische Passa war bereits am 2. April 1931 gefeiert worden, der Mondkalender mit seinen Schaltmonaten wurde in Jerusalem anders fortgeschrieben als bei den Samaritanern

 

 

 

 




 

 

 

1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

... und des ebenfalls mit einer Fotokamera ausgerüsteten schwedischen Theologiestudenten Bo Giertz ...: das hat in besonderer Weise den Sebaldtouch.