Joachim Jeremias |
Am Freitag, den 1. Mai 1931 bestieg der Greifswalder
Gelehrte Joachim Jeremias in Begleitung des Jerusalemer Fotografen Chalil Raad
und des ebenfalls mit einer Fotokamera ausgerüsteten schwedischen
Theologiestudenten Bo Giertz den Berg Garizim. Der Weg dahin war sorgfältig geplant,
erstmals seit vielen Jahren gab es wieder die sich unregelmäßig bietende Gelegenheit,
ein Passafest mitzuerleben, das auf einen Sabbat fiel, in diesem Fall auf Samstag,
den 2. Mai*.
Jeremias wusste, dass die Samaritaner die Sabbatruhe sehr
streng auslegen und deshalb die Vorbereitungen auf das nächtliche Passamahl spätestens
mit dem Sonnenuntergang des 1. Mai beenden würden. Danach begann der Sabbat, an
dem kein Werk, auch kein frommes, verrichtet werden durfte. Fiel das Passafest
auf einen Wochentag, so durfte man auch noch in der Nacht an den Vorbereitungen
des Essens weiterarbeiten, es war zwar ein Feiertag, aber kein Sabbat mit
seinem Arbeitsverbot. An einem Sabbat dagegen ruhten nach dem Untergang der
Sonne alle Tätigkeiten.
Zwei Ergebnisse wollte Jeremias vom Garizim mit nach Hause nehmen: zum einen wollte er das Tageslicht nutzen und Fotos von den Opferhandlungen bekommen, ohne dabei, wie an einem gewöhnlichen Sabbat, künstliches Licht benutzen und die Feiern stören zu müssen. Zum anderen wollte er in allen Einzelheiten festhalten, wie die Vorschriften für ein solches Fest variiert werden, wenn sie mit den Sabbatgeboten kollidieren.
Zwei Ergebnisse wollte Jeremias vom Garizim mit nach Hause nehmen: zum einen wollte er das Tageslicht nutzen und Fotos von den Opferhandlungen bekommen, ohne dabei, wie an einem gewöhnlichen Sabbat, künstliches Licht benutzen und die Feiern stören zu müssen. Zum anderen wollte er in allen Einzelheiten festhalten, wie die Vorschriften für ein solches Fest variiert werden, wenn sie mit den Sabbatgeboten kollidieren.
Mit der Klärung dieser Frage ließe sich vielleicht ein
anderes Problem lösen, das in der gesamten Kirchengeschichte virulent war, aber
nie befriedigend zu Ende gebracht wurde. Es ging um die Frage, ob Jesus an
einem Passafest gestorben ist oder erst an dem Tag danach. Die Evangelisten
Matthäus, Markus und Lukas berichten von der ersten Version, dass nämlich der
Todestag das Passafest war. Der Evangelist Johannes legt dagegen die Kreuzigung
auf den Tag vor dem Passa. Da allerdings von allen vier Evangelisten übereinstimmend
als Wochentag der Freitag genannt wird (was die christliche Tradition, den
Karfreitag zu feiern, fest begründet), entspräche die Konstellation, von der Johannes
berichtet, genau der Konstellation vom Mai 1931: Passa an einem Sabbat.
Und wenn es dann zu Jesu Passion – Hypothese einiger
Ausleger, die alle Evangelien-Berichte harmonisieren wollten – aufgrund der
Sabbatvorschriften zu einem veränderten Termin für das Passamahl gekommen wäre,
nämlich zu einer Vorverlegung auf den Vorabend, also den Donnerstag, dann wäre
auch bei Johannes das letzte Abendmahl ein echtes Passamahl gewesen, auch wenn
es nach seinem Bericht 24 Stunden vor dem üblichen Zeitpunkt stattfand.
Jeremias muss feststellen, dass die Samaritaner auf dem
Garizim dem Evangelisten Johannes nicht den Gefallen tun, seine abweichende
Datierung verständlich zu machen. Sie essen wie in jedem Jahr in der Nacht des Sabbats,
nicht 24 Stunden früher. Sie ziehen lediglich das Schlachten, Kochen und Braten
soweit vor, dass sie am Freitagnachmittag damit beginnen und vor Anbruch der
Dunkelheit damit fertig sind. Die Fotos, erstes Reiseziel, gelingen also. Ein
Passamahl, das um einen ganzen Tag verschoben wäre, zweites Ziel, kann aber nicht
nachgewiesen werden.
Joachim Jeremias hatte eine besondere Nähe zum Heiligen
Land. Er war als Kind fünf Jahre in Jerusalem, im Haus seines Vaters, der
zwischen 1910 und 1918 Pfarrer der „Evangelischen Gemeinde Deutscher Sprache zu
Jerusalem“ war. Seit 1898 war diese Gemeinde im Besitz eines prächtigen
Gebäudes, der Erlöserkirche in der Jerusalemer Altstadt, zu deren Einweihung
der deutsche Kaiser eigens in Heilige Land gekommen war. Aus seiner Hand
empfing der Vorvorgänger von Vater Jeremias das Recht, sich „Probst“ nennen zu
dürfen, also eine Stellung knapp unterhalb eines Bischofs zu bekleiden.
Nach Studentenjahren
in Tübingen und Heidelberg erwarb sich der junge Jeremias gleich zwei
Doktortitel: mit 22 Jahren in Philosophie und mit 23 in Theologie. Mit 29 war
er ordentlicher Professor der Theologie in Greifswald und als solcher machte er
sich auf die Reise zum Garizim. Er war 30 Jahre alt, als er im Heiligen Land
ankam und ein vielversprechender Wissenschaftler, auf dem Weg, einer der
bekanntesten Theologen des 20. Jahrhunderts zu werden.
Jeremias hat seine
in der Kinderzeit erworbenen guten Kenntnisse der Örtlichkeit dafür eingesetzt,
seinen wissenschaftlichen Fragen akribisch nachgehen zu können. Seine philosophische
Doktorarbeit schrieb er über „Jerusalem zur Zeit Jesu“, seine theologische Beschäftigung war vielfach auf das Bestreben konzentriert,
aus der Kenntnis örtlicher Sitten und aus dem Gespür für sprachliche Feinheiten
dasjenige aus dem Neuen Testament herauszuhören, was als authentisches
Jesus-Wort angesehen werden konnte. „Ipsissima vox Jesu“, die ureigenste Stimme
Jesu, auf ihr Finden hatten sich damals viele Theologen verpflichtet, und
Jeremias war vielleicht derjenige mit dem feinsten Instrumentarium dafür.
Späteren
Generationen von biblischen Gelehrten ist der hier erkennbare Optimismus, die wissenschaftlichen
Methoden so ausreichend verbessern zu können, dass Jesu Rede einwandfrei aus
dem Gewirr anderer Stimmen herauszuhören war, dann wieder verloren gegangen.
Kein geringerer als der Papst hat (in seinem zweiten Jesusbuch) die Arbeit von
Joachim Jeremias abschließend gewürdigt und gleichzeitig insgesamt beiseite
geschoben. Benedikt hat das Bemühen durchaus anerkannt, „…den sicheren Fels des
Glaubens zu finden: Was Jesus wirklich gesagt hat, darauf können wir bauen.“
Aber er hat dann geschlossen: „Obwohl die Ergebnisse von Jeremias nach wie vor
bedeutend und – wissenschaftlich gesehen – von hohem Gewicht sind, gibt es
begründete kritische Anfragen, die zumindest zeigen, dass die erreichte
Gewissheit ihre Grenzen hat.“
Grenzen der
Gewissheit – die Reise zum Garizim war 1931 ohne Zweifel noch ganz von der hellen
Erwartung getragen, dass man für heikle Probleme der christlichen Tradition, wie
der Frage nach der eigentlichen Fundierung und damit nach dem Sinn des
Abendmahles, recht bald eine Lösung finden würde. Vor dieser Zeit waren die Deutungen
aufgrund der Differenzen in den Berichten „überwuchert von einem Dickicht
einander widersprechender Hypothesen“, um es auch hier in der schönen und
bildhaften Sprache des Papstes zu sagen. Aber nun würde man mit modernen
Methoden auf den tiefsten Grund der Passageschichte hinunter gehen und dazu den
Ritus der einzigen Religionsgemeinschaft des Volkes Israel mit ununterbrochener
Tradition noch einmal so präzise erforschen, dass danach auf das christliche
Abendmahl ein neues Licht fallen würde.
Jeremias
dokumentiert in einem schmalen braunen Heft mit Pappeinband seinen Besuch mit zahlreichen
Fotos und stellt am Ende Überlegungen zu einem Passaritus an, der sogar noch älter
wäre als die aus dem fünften Mosebuch überlieferten, in Jerusalem zur Zeit Jesu
gepflegten Traditionen.
Nach meinem Eindruck
gewinnt er aber tatsächlich nur ein undeutliches Bild und muss in seinem wenige
Jahre später erscheinenden Buch „Die Abendmahlsworte Jesu“ (1935) die
unterschiedlichen Deutungen referieren ohne eine davon am Ende als die einzig richtige
herausstellen zu können.
Andere Forscher sind
Jeremias auf den Garizim gefolgt. Einer seiner Schüler, der 1928 geborene
Günter Lüling, ist nach ihm noch sehr viel tiefer in den Brunnen der
Vergangenheit gestiegen und hat allerhand dunkle Hypothesen über eine
Verwandtschaft des Garizimkultes zur Baalsverehrung im Lande Kanaan aufgestellt,
die man als Christ nicht ohne leichtes Grauen lesen kann. Nach Lüling ist der
in der Bibel immer als Sinnbild des Heidentums dargestellte Baalskult nicht als
Gegner, sondern als Vorläufer des jüdischen Glaubens anzusehen. Das Bild des Baal
als eines Frühlingsgottes geht demnach im israelischen Gottesbild auf, die
Baalsfeiern werden zum Frühlingsfest Passa. Man muss angesichts solcher
Grenzüberschreitungen, die geradewegs, über eine gemeinsame frühlingshafte
Wiedergeburt, den heidnischen Baal mit Jesus verbinden wollen, schon das weite Herz des Papstes haben, der
die Mythen nicht als Konkurrenten fürchtet, sondern sie als Vorbilder des
christlichen Glaubens deutet. Die Mythen warten, sagt er, auf Jesus.
Man kann sich aber
auch kurzerhand allen Spekulationen entziehen und sein Wissen bekennen, dass
man nichts weiß. Es mag eigenartig erscheinen, aber zu unserer an Wissen so
reichen Gegenwart gehört mittlerweile wohl auch die Skepsis, die sich aus der
Erkenntnis der Grenzen unserer Gewissheit ableitet. Vieles ist in den
stürmischen Jahren nach der Aufklärung mit dem Optimismus begonnen worden, dass
man recht bald die letzten weißen Flecken auf der Landkarte des Wissens tilgen
würde. Aber manche dieser Flecken haben sind als resistent erwiesen, manches
Forschungsgebiet hat sein Geheimnis für sich behalten.
Mir erscheint der
Garizim mit seinen archaischen Felsfragmenten, die den Weg zu den ältesten biblischen
Opfer- und Segnungsstätten weisen, ein Urbild solcher Geheimnisse zu sein.
*das jüdische Passa war
bereits am 2. April 1931 gefeiert worden, der Mondkalender mit seinen
Schaltmonaten wurde in Jerusalem anders fortgeschrieben als bei den
Samaritanern
1 Kommentar:
... und des ebenfalls mit einer Fotokamera ausgerüsteten schwedischen Theologiestudenten Bo Giertz ...: das hat in besonderer Weise den Sebaldtouch.
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