Vermittelt durch den kanadischen Philosophen Charles Taylor und die ersten 125 Seiten seines
Hegel-Buchs
Man fängt am
besten beim jungen Werther an, wie er da gleich zu Beginn des Romans im hohen Grase
liegt, das Leben der Käfer und Pflanzen betrachtet, die Gegenwart des „All-Liebenden“
in sich und um sich herum spürt und sich danach sehnt, „ach, könntest du das
wieder ausdrücken, … was so voll, so warm in dir lebt.“ Diese Sehnsucht gehört
zu der Welt, in die Hegel hinein geboren wird.
Als der Werther im September 1774 zur Leipziger Buchmesse erschien, war der kleine Wilhelm Hegel in Stuttgart gerade vier Jahre alt geworden. Die Gedanken des Sturm und Drang müssen eine wichtige Rolle in seinen jungen Jahren gespielt haben, folgt man Charles Taylor. Die Beschäftigung mit der Frage nach dem angemessenen Ausdruck, für die Taylor das Wort Expressivismus einführt, bildet gewissermaßen den einen Pol seines Denkens.
die Sonne könnt' es nie erblicken;
läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
wie könnt' uns Göttliches entzücken?
Als der Werther im September 1774 zur Leipziger Buchmesse erschien, war der kleine Wilhelm Hegel in Stuttgart gerade vier Jahre alt geworden. Die Gedanken des Sturm und Drang müssen eine wichtige Rolle in seinen jungen Jahren gespielt haben, folgt man Charles Taylor. Die Beschäftigung mit der Frage nach dem angemessenen Ausdruck, für die Taylor das Wort Expressivismus einführt, bildet gewissermaßen den einen Pol seines Denkens.
Den anderen
bildet der Freiheitsbegriff von Immanuel Kant, untrennbar verbunden mit der
Frage nach einer aus eigenem Nachdenken gewonnenen Mündigkeit in Bezug auf die
moralischen Gesetze.
Man muss an
dieser Stelle den Wald der philosophischen Begriffe betreten um die
Spannung
zwischen beiden Polen zu verstehen, die das gesamte System des hegelschen
Denkens durchzieht. Die Freiheit des Willens trägt bei Kant die Gefahr einer eher
distanzierten Annäherung an die Umwelt in sich, in welcher vielfach das Ding an sich
wie mit spitzen Fingern angefasst wird. Im Gegensatz dazu strebt der Expressivismus
in der Art des jungen Werther nach einer Überwindung der Distanz, einer Vereinigung
mit dem Weltganzen. Taylors zentrale These ist, dass diese Dialektik (der Ausdruck erscheint erst erstaunlich spät im Buch) der
Kern des Hegelschen Denkens ist.
Charles Taylor, geb. 1931 in Montreal |
Im Zentrum seines
Nachdenkens steht etwas, das vielleicht eine Besonderheit der deutschen Philosophie
im weltweiten Zusammenspiel der Aufklärung ist: der Vorrang des sich selbst
erforschenden Ichs. Es positioniert sich in der Mitte der inneren und äußeren
Erscheinungen und will mehr sein als nur ein weiteres Objekt der Betrachtung für andere
Subjekte. Es wird bei Hegel zum Zentrum des Gestaltens der Welt.
Bei ihm entwickelt
sich nach und nach das System einer sich selbst denkenden und dabei die
Welt entwickelnden Wirkmacht, einer Macht, die er Geist nennt. Dieser Geist lebt nicht in
einem entfernten Himmel in Distanz zur Welt, sondern verwirklicht sich selbst
in der Welt und mit ihr in einzelnen Individuen.
Ohne Welt
ist Gott nicht Gott, hat Hegel über diesen Weltgeist gelehrt, was nicht
atheistisch verstanden werden darf – Hegel hat sich Zeit seines Lebens immer als frommen
Lutheraner angesehen. Gott denkt sich selbst und indem er das mitten in der
Welt tut, erschafft und gestaltet er sie.
Die Kunst,
sich selbst zu denken, sich selbst in einem größeren Zusammenhang der Dinge zu
sehen, hat einer der Begründer des Sturm und Drang, der Philosoph Herder, mit
dem schönen deutschen Wort Besonnenheit bezeichnet. Es ist eines der vielen
Worte, die Taylor in seinem Buch im deutschen Original zitiert, immer mit einer
offenkundigen Bewunderung für die Kraft der deutschen Sprache. Für einen deutschen
Leser seines englisch geschriebenen Buches ist die Annäherung an solche Worte
über das Englische hilfreich. Die Gedanken bewegen sich zunächst auf einer sprachlich
einfacheren Hilfsebene, über welcher das komplexere deutsche Original dann wortmächtig
aufscheint - manchmal auch ein wenig rätselhaft .
Sich selbst
zu denken, sich als freien Willen zu erkennen, dabei aber nicht von dem System
der anderen Erscheinungen getrennt zu sein, das ist die große Aufgabe der Zeit,
von der Taylor sagt, dass Hegel sie in einzigartiger Weise gelöst habe. Man
muss dazu in Bewegung geraten, schöpferisch sein, Geist sein. Schon bei Kant war
der freie Wille nicht allein durch seine abstrakte Freiheit, sondern vielmehr
durch seine Aktivität gekennzeichnet, nämlich als ein im Kern auf moralisches Handeln ausgerichteter Wille.
In Hegels
Jugendzeit fällt die Französische Revolution, da ist er 19. Kant in Königsberg
war damals bereits 65 Jahre alt, und an den Universitäten versuchten seine
gelehrigen Schüler, seine Ideen weiterzuentwickeln. Das neue Ziel der Einheit mit
der ganzen Natur stand, so deren Kritik am Altmeister, dem alten Ziel entgegen, ein
Leben in der moralischen Freiheit zu führen, die Kant forderte. Freiheit war
Distanz. Diese Distanz wollten die Jungen überwinden.
Abzugrenzen hatte
man sich dabei von einem Verständnis von Natur, wie es einige radikale Aufklärer
im englischen und französischen Ausland vertraten. Für sie war Natur ein reines
Beobachtungsobjekt und als solches dann oft auch ein bloßer Spielball ungezügelter Kräfte. Das Ich
existierte gar nicht, es wurde entsprechend der Lehre des Schotten David Hume lediglich
als ein Bündel von Wahrnehmungen (bundle of perceptions) angesehen.
Dieses
Verständnis von Natur und von menschlichem Subjekt war für Hegel und seine
deutschen Zeitgenossen nicht mit dem Gedanken zu versöhnen, dass der Mensch als
ein Teil dieser Natur bewusst und gestaltend in ihr lebte. (Generationen später hat Helmut Kohl einmal
Margret Thatcher ausrichten lassen, sie solle mehr von Gemeinschaft und weniger von Gesellschaft
reden. Das ist ein Nachhall dieser Abgrenzung.)
Taylor ist
immer da am besten zu verstehen, wo er philosophische Gedanken mit einem
klassischen Gedicht erläutert. Das angestrebte Ziel, das Einssein des
erkennenden Menschen mit der Natur drückt Goethe so aus:
Wär nicht
das Auge sonnenhaft,die Sonne könnt' es nie erblicken;
läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
wie könnt' uns Göttliches entzücken?
Manchmal
ging der Versuch, das eine mit dem anderen zu versöhnen, auch schief - etwa in
dem Ansatz des Philosophen Schelling, alle Widersprüche im Begriff des Absoluten
aufzulösen. Hegel hat diesen Versuch abgelehnt und das Absolute als die Nacht,
in der alle Kühe schwarz sind, lächerlich gemacht. Das hat Schelling, der Hegels Jugendfreund war, nicht
gefallen.
Hegels Genie
bestand offenbar darin, allen Widersprüchen so lange nachzugehen, bis er sie in
ein einheitliches System gezwungen hatte. Er benutzte dazu Begriffe wie Identität
der Identität und der Nichtidentität.
Hier
beginnt für mich der tiefere Teil des bereits erwähnten Waldes der philosophischen Begriffe, von dem ich
nach den ersten 125 Seiten des Buches nicht sagen kann, dass ich von seinen letzten Tiefen schon eine Ahnung habe. Möglicherweise helfen mir aber die restlichen 450 Seiten hier
weiter.
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