Vor dem
Eingang zu Hegels großem Gedankengebäude stehen die sperrigen Worte
„Phänomenologie des Geistes“, Titel seines Hauptwerks. Das erste Wort ist
zugänglicher als es erscheinen mag. phainomenon ist die gewöhnliche äußere
Erscheinung. Sie muss beileibe nicht immer „phänomenal“ sein, dass ist eher ein
Slangwort, das den Ursprungssinn übersteigert. In der Medizin ist der
„Phänotyp“ das, was man vor Augen sieht, wohingegen der „Genotyp“ das ist, was
das innere Konstruktionsprinzip beschreibt. Phänomenologie ist also die Lehre
von den äußeren Erscheinungen.
Was aber erscheint?
Es erscheint Geist. Was ist „Geist“? Taylor benutzt das Wort in der Regel im
deutschen Original und kursiv geschrieben, Geist.
Es hört sich bei Taylor oft so an, als ob Geist
mit dem Wort Gott austauschbar wäre,
und in der Tat lässt Taylor bisweilen alle Bedenken beiseite und sagt Gott, wo zuvor von Geist
die Rede war. Es gibt im Grunde auch nur einen einzigen Grund, nicht Gott zu sagen, wenn es um die letzten
Erkenntnisse des Sinnzusammenhangs der Welt geht: unser Begriff von Gott ist
falsch, weil er diesen außerhalb der Welt sein lässt. Gott/Geist ist aber – ein
zentraler Gedanke Hegels – in der Welt enthalten und ihr nicht etwa gegenüber.
Er ist sogar in uns Menschen und erschafft die Welt durch uns, denkt sich
selbst in uns und in der Welt.
Hegel war
Lutheraner, das sagte ich schon, und als Stuttgarter und Student im Tübinger
Stift sicherlich eng mit dem Pietismus vertraut. Es ist vielleicht hilfreich,
selbst eine pietistische Kinder- und Jugendzeit gehabt zu haben (wie ich), um
in der letzten äußeren Erscheinung von Geist
etwas dem schlichten Glauben Verwandtes zu entdecken, nämlich
die Erfüllung der Verheißung, dass Gott eines Tages „alles in allem“ sein
werde (1. Korintherbrief 15, 28). Am Ende soll der Geist so sichtbar und wirkmächtig in der Welt leben, dass, so
Taylor, „in der letzten Form der vollständigen Selbst-Offenbarung des Geistes,
kein Raum mehr für Glauben ist“ (In the ultimate religion of the
self-revelation of Geist, there would
be no room for faith, Taylor, Seite 199).
Der Mensch wäre
dann, um ein Bild aus dem Zweiten Korintherbrief (5,7) zu benutzen, vom Glauben
zum Schauen übergegangen. Was schaut er? Er sieht das Wirken des Geistes in der
Welt, und er sieht es in vollkommener Übereinstimmung mit dem Geist seiner
Geschöpfe, also auch mit meinem Geist und mit jedem Geist der zum Schauen
gelangten Menschen. Beide Phänomene von
Geist sind hier identisch geworden: der individuelle Geist des Einzelnen und der sich selbst
denkende universale Geist.
Hegel hat
seinem Begriff von Geist keinen Gefallen getan, indem er den 1806 unter Hegels
Fenster in Jena einreitenden Napoleon als „Weltgeist zu Pferde“ bezeichnet hat.
Der universale Geist ist etwas sehr
viel Größeres als ein bloßer Weltgeist, und ein Pferderücken ist für ihn der
falsche Platz. Er will nämlich als etwas verstanden werden, das sich nicht als
Gegenstand außerhalb unserer selbst präsentiert. Das letzte Phänomen des Geistes ist sein
vollkommenes Aufgehen in seiner Schöpfung.
Ist das
mystisch? Ich sagte bereits, dass viele Gedanken Hegels im „Sturm und Drang“
ihre Wurzeln haben, beim jungen Werther, wie er da im Gras liegt und mit allen
Geschöpfen eins sein will. Ja, das klingt mystisch, es ist es aber nicht, weil
sein Sinn sich nicht im sprachlosen Glück der Unio Mystica, der mystischen Einheit mit Gott, erschöpft, sondern
Ausdruck und Sprache werden will, Expression.
Hegels
System ist ein sprachliches System. Er weckt den Menschen, der in umfassender
Betrachtung der Welt mit allen seinen Sinnen sein natürliches Bewußtsein
(ordinary consciousness) in Gang gesetzt hat, sehr unsanft auf und fordert ihn
auf, nunmehr auch zu sagen, was er sieht. Mit der Sprache kommt Unterscheidung,
und damit allerdings auch Trennung und die vorläufige Unmöglichkeit, eins mit dem universalen Geist zu werden.
Erst über
eine lange Ketten von epochalen Entwicklungen – von den Urreligionen über die
Religionen der Griechen und Juden – kommt es im Christentum zu einem ersten
großen Versuch, den universalen Geist und den Geist eines einzelnen Menschen in
eins übergehen zu lassen – in Christus.
Über die
Menschwerdung Christi sagt Hegel, dass hier die Substanz „sich ihrer selbst
entäußerte“ und auf bisher einmalige Weise die Aufhebung des Unterschiedes
zwischen universellem Geist und dem Geist des Menschen erreichte. Sein
Wort von der Selbstentäußerung erinnert an den Christushymnus aus dem
Philipperbrief (2,7) in dem es über Christus heißt
Er entäußerte sich selbst und nahm
Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Ich habe jetzt die zweiten hundert Seiten in Taylors Buch gelesen und fühle mich wie in einem großen dunklen Raum, in dem jemand nach und nach kleine Lichter entzündet. Man sieht Umrisse einzelner Gegenstände.
Was ich bislang sehe, widerspricht nicht den Glaubensvorstellungen, in denen ich erzogen worden bin, im Gegenteil. Hegels Geist scheint mir am Ende ein frommer Geist zu sein.
ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Ich habe jetzt die zweiten hundert Seiten in Taylors Buch gelesen und fühle mich wie in einem großen dunklen Raum, in dem jemand nach und nach kleine Lichter entzündet. Man sieht Umrisse einzelner Gegenstände.
Was ich bislang sehe, widerspricht nicht den Glaubensvorstellungen, in denen ich erzogen worden bin, im Gegenteil. Hegels Geist scheint mir am Ende ein frommer Geist zu sein.
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