Markus Dressler, "Writing Religion: The Making of Turkish Alevi Islam”
Oxford University Press, USA 2013
Oxford University Press, USA 2013
Wer um das
Jahr 1850 das Gebiet der heutigen Türkei bereiste, dürfte damals kaum auf
Aleviten gestoßen sein. Dass sie trotzdem nach der Gründung der modernen Türkei
mit einem Anteil von 15% an der Gesamtbevölkerung in den Statistiken als
bedeutende Gruppe aufgeführt wurden, ist auf einen großen politischen Kunstgriff
zurückzuführen, dessen Mechanismen Markus Dressler sehr kenntnisreich
offenlegt. Man wird beim Lesen seines Buches Zeuge eines oft verzweifelten und
blutigen, am Ende aber erfolgreichen Kampfes der Türken um einen eigenen
nationalen Charakter. Dressler beschreibt die Auseinandersetzungen aus großer Nähe, ist dabei aber
nie schnell mit einem moralischen Urteil bei der Hand.
Die
Vorgänger der Aleviten hätte man 1850 vermutlich überwiegend als „Rotköpfe“
(Kızılbaş, gesprochen Keselbasch) bezeichnet, ein eher herabwürdigender Begriff
für große Gruppen von Minderheiten im Osmanischen Rech, die sich religiös nicht
eindeutig zuordnen ließen und vom Sultan in Istanbul auch nicht als vertrauenswürdige
Staatsbürger anerkannt wurden. Das Misstrauen ihnen gegenüber verstärkte sich, als
der Zerfall des Osmanischen Vielvölkerreiches begann, mit dem Ergebnis einer großen
Zahl neuer nationaler Staaten. Im verbleibenden Rest, dem anatolischen Kernland
der Osmanen, war bald jeder verdächtig, der von seiner Ethnie, seiner Sprache
oder seiner Religion anders war als sein Nachbar.
Anders zu
sein war in der Zeit eines überall erwachenden Nationalbewusstseins innerhalb
und außerhalb Anatoliens gleichermaßen gefährlich. Gerade die osmanischen Türken
wurden zunehmend Opfer brutaler Vertreibungen aus den neuen Nationalstaaten auf
dem Balkan und dem Kaukasus. Die Erfindung der Todesmärsche, die später einer
riesigen Zahl von Armeniern das Leben kosten sollte, und denen als Konzept ein
pseudowissenschaftlich begründetes demographic engineering unterlegt war, führte
vor dem Ersten Weltkrieg zum Untergang von hunderttausenden
Türken aus Bulgarien und dem Kaukasus. Eine Fortsetzung dieser Entwicklung
hätte nicht nur Anatolien zerstückelt, es hätte zur Vertreibung weiterer Türken
aus Provinzen geführt, in denen es eine fremde Bevölkerungsmehrheit gab – in den
Gebieten der Kurden, Armenier und Griechen.
In dieser
bedrohlichen Situation kam dem Osmanischen Reich, später den Jungtürken und schließlich
den Kemalisten zugute, dass man in allen Bereichen begonnen hatte, sich nach
Westen zu orientieren, seine jungen Leute in
Paris und Berlin studieren zu lassen und sein Denken neuen,
wissenschaftlichen Methoden zu öffnen. Dressler beschreibt dies besonders
intensiv anhand der Arbeit des türkischen Soziologen Fuat Köprülü. Er lebte
von 1890 bis 1966 und hatte mit seinen Forschungen großen Einfluss auf die
Entscheidungen sowohl der Jungtürken als auch der Kemalisten.
Köprülü
hatte seine Vorstellung von Soziologie durch ein intensives Studium der Werke
Émile Durkheims (1858 – 1917), des Vaters der französischen Soziologe gewonnen.
Parallel dazu war er philosophisch bei Alfred Fouillée (1838 – 1912) auf den
Gedanken der idées-forces gestoßen,
Schlüsselideen, welche die Kraft zu ihrer eigenen Verwirklichung bereits in sich
trugen. Eine solche Schlüsselidee für das einheitliches Bild von dem zu finden, was "Türke" bedeutete, war Köprülüs Ziel.
Er
entwickelte seine Gedanken dazu zusammen mit anderen zum Aufbruch bereiten
jungen Denkern. Im Ergebnis entstand nach und nach die komplizierte Synthese
eines animistischen Ur-Türkentums mit der vereinheitlichenden, als modern empfundenen Kraft
des sunnitischen Islams.
In der Anbindung an alte, zentralasiatische Traditionen spielten dabei die Kızılbaş eine wichtige Rolle. Sie wurden zu Trägern eines dunklen Vorwissens um schamanische Kulte und Riten. Durkheim und andere Vertreter der Moderne waren überzeugt, dass diese immer am Anfang jeder rationalen Entwicklung von Religion stehen. Mit Totems und Schamanen fängt für die aufgeklärte Wissenschaft jede Geschichte der Religionen an.
In der Anbindung an alte, zentralasiatische Traditionen spielten dabei die Kızılbaş eine wichtige Rolle. Sie wurden zu Trägern eines dunklen Vorwissens um schamanische Kulte und Riten. Durkheim und andere Vertreter der Moderne waren überzeugt, dass diese immer am Anfang jeder rationalen Entwicklung von Religion stehen. Mit Totems und Schamanen fängt für die aufgeklärte Wissenschaft jede Geschichte der Religionen an.
Der moderne
Türke war, so dachte Köprülü, einerseits in dunklen Schamanen-Vorstellungen
verwurzelt, auch wenn ihm das nicht bewusst war, andererseits lebte er aber auch
in der hellen Welt einer sunnitischen Hochkultur, die Köprülü wie alle
religiösen Hochkulturen als „rational und kohärent“ ansah, so hatte es Immanuel
Kant vorgegeben.
Abzugrenzen
war diese Schamanismus-Theorie nun allerdings von der vielfach feststellbaren
Nähe der Kızılbaş zu den Christen. Diese Nähe erklärt auf den ersten Blick das
Wesen der Kızılbaş sehr viel besser als die
hypothetische Vermischung islamischer Gedanken mit über 1000 Jahren
zurückliegenden animistischen Vorstellungen der Turkvölker Zentralasiens. Viel
naheliegender ist die lebendige Begegnung mit den anatolischen Christen, die im
Mittelalter, noch lange nach der um das Jahr 1050 beginnenden Einwanderung der
muslimischen Türken friedlich Seite an Seite mit ihnen lebten. Viele Historiker
nehmen an, dass die Kızılbaş Christen waren, die eine halbherzige Konversion zu
einem als schiitisch getarnten Islam vollzogen hatten, um im Reich des Sultans,
der als Kalif gleichzeitig der „Papst“ aller Muslime war, als vollwertige
Bürger leben zu können.
Aus
verständlichen politischen Gründen hat sich dann aber das gesamte soziologische
und historische Werk Körprülüs und seiner Zeitgenossen von dieser
Christen-These ab- und der Schamanismus-These zugewandt. Mit der Behauptung
einer Islamisierung dieses alten Glaubens auf dem Weg über das „Alevitentum“ der Kızılbaş und
anderer nicht-sunnitischer Gruppen entstand eine Türkei, die bis heute auf dem Kunstsockel von
zwangsvereinigten, allesamt angeblich gut islamischen Glaubensrichtungen steht.
Dieser
Sockel behindert nach meinem Eindruck die Entwicklung der Türkei mehr als dass er sie fördert. Für die Kemalisten war die Definition, dass
ein Türke streng genommen nur ein Sunni-Moslem sein konnte, ein künstlich
gewähltes Bindemittel für die neue Nation. Es stand in eigenartigem Kontrast zu
der Tatsache, dass die Kemalisten sich selbst oft nur noch in einem sehr
weltlichen Sinn als Muslime ansahen. Vielen wirklich religiösen Menschen konnte ihr Staat niemals eine Heimat bieten.
Umgekehrt wirkte
die Islam-Fiktion für spätere Oppositionsparteien, wie die Demokratische Partei
des 1960 hingerichteten Präsidenten Menderes und die heutige AKP Erdogans, die
beide den Islam sehr viel ernster nahmen und nehmen als die Kemalisten, insofern
gefährlich als sie sozusagen die alten Kızılbaş-Türken in den weltlichen Eliten
verärgerte. Sie wollten und wollen nicht in einem rein islamischen Staat leben. Sie
verlangen Freiräume – und es verwundert nicht, dass sich diese Forderung auch immer
wieder an der „alevitischen Frage“ festmacht.
Am Ende
wünscht man sich, die heutigen Machthaber würden das Buch Dresslers so lesen
wie die Kemalisten die Bücher Köprülüs gelesen haben. Sie könnten dann einen
Staat neu konstituieren, der nach der früher einmal in Frankreich
entwickelten Devise leben würde: Staatsbürger ist bei uns, wer es sein will.
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