Mittwoch, 16. Juli 2014

Hegel ist überall


Sieben Monate habe ich gebraucht, um mich durch das 573 Seiten starke Buch „Hegel“ des kanadischen Philosophen Charles Taylor zu arbeiten. Am Ende steht der überwältigende Eindruck, dass sich in dem großen Gedankengebäude Hegels, von dem ich längst nicht alles verstanden habe, die ganze moderne Welt seit dem Jahre 1770, in dem Hegel geboren wurde, unterbringen lässt. 

Überall ist Hegel. Im Nachhinein betrachtet haben alle meine Lehrer in der Schule wie er gedacht, die Professoren an der Universität ebenso und viele kluge Schriftsteller deren Bücher ich gelesen habe. Sein Kernwerk ist die „Logik“, und wenn man ihr folgt, dann hat man ein robustes Skelett, an das sich die Realität von Welt, Natur und Geschichte ganz von selbst als Fleisch hinzufügt. Und alle haben sie an diesem Skelett ihre eigenen Gedanken festgemacht.
 
Natürlich schreibt Charles Taylor sein Buch (im Jahre 1975) aus einer kritischen Distanz zu Hegel und führt auf den letzten 35 Seiten („Hegel today") auf, warum seine Philosophie schon bald nach seinem Tod an Einfluss verloren hat. Aber er steht deutlich selbst unter der Faszination, die von Hegels Klarheit der Gedanken ausgeht und schreibt darüber, was wir alles von ihm geerbt haben. Und das ist für ihn vornehmlich die immerwährende Spannung zwischen der von Kant begründeten Forderung nach Freiheit und der von Goethe und dem „Sturm und Drang“ geweckten Sehnsucht nach Empfinden und Ausdruck. Taylor nennt dies expressivism. Nur Hegel hat aus beidem eine zumindest den Gesetzen der Logik standhaltende Synthese geschaffen.
 
Kant und Goethe führen den Leser wie Leitfiguren durch das ganze Buch und erklären am Ende auch, welche Wege die Menschen nach Hegel gefunden haben, um ihren bis heute unbedingten Willen nach Freiheit auszuleben und dabei gleichzeitig expressivistisch der Einheit mit der Natur nachzustreben.
 
Taylor ist in seiner Kritik an der modernen Welt ganz auf Hegels Seite, Er sieht dessen große Ideen heute in einer Welt von eher zweitklassigen utilitaristischen Bewegungen verloren. Alle Dinge haben jetzt einen Nutzen, aber nichts erklärt dem Menschen, was er ist oder was er sein könnte. Hegel hat den hohlen Materialismus der Aufklärung schon früh kritisiert und sie als Folge einer kalten Denkweise angesehen, die zwar zu einer präzisen Anschauung der Dinge kommt, darüber aber deren Sinn und den Sinn für das Ganze verliert.
 
Hegel Begriff von Sinn kommt im Ausdruck von Geist oder Weltgeist zum Zuge. Der Geist sitzt inmitten der Welt, er ist letztlich mit Gott identisch, und er bringt denkend die Welt aus sich hervor. Er ist die Welt und ohne die Welt ist er nicht. So hat es Hegel gesagt und ist bezichtigt worden, ein Atheist zu sein. Dem hat er aber zeitlebens widersprochen. Er hat im Gegenteil gesagt, dass Aussagen wie die von Schleiermacher, Religion sei Sinn und Geschmack für das Universum falsch seien. Sie verlagerten das Zentrum der Welt in das eigene Gefühlsleben zurück und wiesen Gott damit einen vollkommen falschen Platz zu.
 
Hegel hat eine Reihe von Ansätzen seiner philosophischen Zeitgenossen abgelehnt, mit denen sich Dinge lediglich verstehbar machen ließen. Verstand war zu wenig, Vernunft war der Zielpunkt  zu dem man durchdringen musste. Die Vernunft würde am Ende eine absolute Klarheit bringen, selbst über die inneren Gedanken Gottes.
 
Das war niemals häretisch gedacht, im Gegenteil: es zeugte von der tiefen Verbundenheit Gottes mit der Welt, dass er seinen Geschöpfen Vernunft und Sprache mitgegeben hat, um mit ihnen zu kommunizieren und mit ihnen die Welt zu gestalten.
 
Ich stelle mir Hegel nach den Beschreibungen seiner Berliner Studenten als einen in seinem schwäbischen Dialekt langsam und bedächtig vortragenden, oft nach Worten ringenden Professor vor. Er gewann seine Erkenntnisse nur mit großer Mühe, so schien es, aber wenn er sie dann aufblitzen ließ, vergaß man das Licht Zeit seines Lebens nie wieder. Im privaten Umgang war er ein bürgerlicher, geselliger Mann. Er starb recht plötzlich, mit nur 61 Jahren, vielleicht an der Cholera, vielleicht aber auch an einem seit längerem vorhandenen Magenleiden.
 
In seiner letzten Fußnote legt Taylor eine Spur für alle die, die vielleicht doch noch einmal an Hegels Gedanken anschließen möchten. Genialer noch als er habe diese Gedanken einer seiner Schulfreunde ausgedrückt, mit dem er einige Jahre im Tübinger Stift verbracht hat. Genial und ein wenig rätselhaft - der Schulfreund ist am Ende der eigenen Gedanken nicht Herr geworden und in eine geistige Umnachtung gefallen, aus der er bis zu seinem Tode nicht mehr herauskam. Der Freund war Friedrich Hölderlin. Vielleicht sollte ich nochmal etwas von ihm lesen. 

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