Sonntag, 24. August 2014

Die Armen

Für Charles Taylor ist die Veränderung im Verständnis von Armut eine der treibenden Kräfte, welche stufenweise die moderne Gegenwart aus dem Mittelalter entstehen lässt. Gestern beim Gang durch Rostock wurden Charles Taylors Gedanken anhand eines alten Gemäuers auf einmal sehr plastisch.


Das St.-Katharinen-Stift in der Nähe des Alten Marktes ist eine Gründung der Franziskaner aus dem Jahre 1223. Die der Armut verpflichteten Nachfolger des Franz von Assisi gründeten um diese Zeit überall in Europa neue Klöster. Ihre besondere Beschäftigung mit der Armut war dabei noch ganz im Denken des Mittelalters verfangen. Armut war damals noch ein von Gott bestimmtes Schicksal und hatte als solches gewissermaßen einen goldenen Glanz aus der Ewigkeit. Sicherlich hat man sich daran erinnert, dass schon Jesus die Armen selig gepriesen hat. Auf jeden Fall hat man wenig getan, um ihr Los dauerhaft zu verbessern. Hatte nicht Jesus außerdem gesagt "Arme werdet ihr immer unter euch haben"?

Die Einstellung zu den Armen ändert sich in den Zeiten der Reformation. Menschen werden als einzelne herausgerufen, ihr Leben in freier Wahl zu verändern. Das Katharinen-Stift wird 1534 von den Protestanten übernommen und bezeichnenderweise in ein Armenhaus umgewandelt. Es beginnt gewissermaßen eine moderne Gesellschaftspolitik, die sich mit dem angeblich gottgegebenen Zustand der Armen nicht mehr zufriedengibt. 

Auf der Tafel am Gebäude ist abzulesen, wie sich dieser Gedanke im Laufe der Zeit immer mehr verstärkt und sich auf spezielle Gebiete konzentriert. Im Jahre 1624 wird aus dem Armenhaus ein Erziehungshaus für Waisen. Daraus wird im Jahre 1728 ein "Zucht- und Werkhaus". Man meint aus den Bezeichnungen herauslesen zu können, wie sich das Selbstbewusstsein der Gesellschaft, menschliche Veränderungen herbeiführen zu können, immer weiter verstärkt.

Im 19. Jahrhundert kommt dann der Gedanke hinzu, dass man nicht nur den Armen durch Belehrung und Übung zu einer besseren Zukunft verhelfen kann, sondern auch den Geisteskranken. So wird das Stiftsgebäude im Jahre 1825 zu einer "Krankenanstalt für die am Gemüte Leidenden".

Bei Charles Taylor wird anschaulich geschildert, wie sich die auf persönliche Veränderung drängende Kraft des Individuums seit den Zeiten des Mittelalters immer stärker durchsetzt. Die Geschichte des Rostocker Stifts macht diese Veränderungen wie im Zeitraffer deutlich. 



 

Keine Kommentare: