Montag, 18. August 2014

Ein unbekanntes Leben

Lieber David, liebe Tina, liebe Gäste,

dies ist die dritte Hochzeit von einem meiner Kinder und entsprechend meine dritte Rede, und wer bei allen dreien dabei war, wird feststellen, dass ich immer dasselbe sage. Ich beginne jedes Mal bei einem Gedanken von Marcel Proustund arbeite mich dann in Richtung auf immer dieselbeSchlussfolgerungen vor. Es ist also von Vorteil, wenn man nicht zur Runkel-Seite dieser Zusammenkunft gehört und sichentsprechend nicht über Wiederholungen langweilen muss.

Bei Proust geht es darumdass er den jungen Romanhelden von einer Zeit träumen lässt, in der ihm die Nachbarstochter, in die er sich verliebt hatte, eine für ihn vollkommen neue Welt von neuen Entdeckungen eröffnen würde – Kunstwerke, Landschaften, Literatur und vieles mehr. Sie hat die Schlüssel zu allen Türen, und sie wird diese Türen für ihn öffnen.

Und wie so oft, wenn die Figuren bei Marcel Proust träumen, kommt am Ende eine scharfsinnige Beobachtung heraus, aus der Tiefe der Träume geboren, aber mit wachem Bewusstsein verstanden. Sie lautet in diesem Fall so:

Unser Glaube, dass ein Wesen an einem unbekannten Leben teilhat, in das seine Liebe uns mit hineintragen würde, ist unter allem, was die Liebe zu ihrer Entstehung braucht, das Bedeutungsvollste, demgegenüber alles andere nur noch wenig ins Gewicht fallen kann.*

Unser Glaube, dass ein Wesen an einem unbekannten Leben teilhat – daraus ziehe ich meine Ermutigung für euch beide, David und Tinaglaubt fest daran, ein solches Wesen an Eurer Seite zu haben, ein Wesen, das tatsächlich an einem Euch unbekannten Leben teilhat, und dann geht mit offenen Augen und mit einem offenen Herzen in die neue Welt, in die EuchEure Liebe führen wird.
Was wird das für eine Welt sein? Ich kann das hier sicherlich nur erahnen und kann, wenn überhaupt, nur etwas über die Seite sagen, in die Tina Dich, David, einführen könnte, die Runkel-Welt sozusagen. Ich komme dabei gefährlich nahe an die Stelle, von der Tina mich in einer Reihe von Vorgesprächen dringend gebeten hat, sozusagen mit angezogener Handbremse zu sprechen und auf keinen Fall eine Wagener-Welt zu konstruieren und sie dann mit der Runkel-Welt in Antithese zu stellen.

Den Fehler werde ich auf keinen Fall begehen, wie man sogleich sehen wird. Ich möchte stattdessen von einem Erlebnis sprechendas lange vor der Entstehung der unterschiedlichen Welten stattfinden kann und auch häufigstattfindet. Es liegt auf einer tieferen Ebene, weil es den beiden Welten gemeinsam ist, und nicht nur unseren beidenFamilien-Welten, sondern allen Welten, allen den Welten, die jeder einzelne hier im Raum in sich trägt.

Ich habe dieses Erlebnis erzählt gefunden, vor wenigen Wochen, in einem Buch des kanadischen Philosophen Charles Taylor**, der mich in den letzten Monaten, wie David weiß, sehr beschäftigt hat. David hat von Anfang unserer Bekanntschaft an immer reges Interesse an dem gezeigt, was ich jeweils gerade gelesen habe. Solches Interesse tut einem älteren Menschen gut, und ich beobachte mit Dankbarkeit besonders bei Schwiegersöhnen die Gabe, solches Interesse zu zeigen und mich damit zu beschenken.

Taylor erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der als Student an einem schönen Sommerabend einen Gang aus der Stadt heraus und in die Natur hinein macht. Während er ging,so hat er später erzählt, hörte er die Vögel singen, und es war ihm plötzlich so, als hätten sie nie in seinem Leben schöner gesungen als an diesem Abend. Auch ein blühender Weißdornerschien ihm in einem Licht, das er vorher nie gesehen hatte. Die Sonne ging unter und er wagte es kaum, seinen Blick in den tief blau schimmernden Himmel zu erheben, so ergriffen war er.

Taylor kommentiert diese Erzählung und sagt: dies ist ein Erlebnis der Fülle, das sehr vielen Menschen in Momenten desGlücks widerfährt. Es widerfährt auf eine allgemeinere und vielfältigere Weise sogar möglicherweise allen, und wenn wir es erfahren, oder auch nur, wenn wir davon wissen, wird eszum Ziel unseres Strebens, das Erlebnis der Fülle.

Nun schreibt Taylor im Anschluss an diese Schilderung der Fülle noch sehr viel Anderes. Er schreibt über zwei großeDenkschulen der letzten 500 Jahre, und diese Schulenunterscheiden sichvereinfacht gesagt, darin, dass sie dasErlebnis der Fülle entweder mit Gott in Verbindung bringen(das ist die alte Welt) oder dass sie es sich auch ohne Gott erklären können, das ist die neue Welt, die heutige. Hier wäre - Handbremse wird angezogen - die Wagener-Welt in einer groben Unterscheidung in die neuere Kategorie einzuordnen, die Runkel-Welt in die ältere. Zur neueren Kategorie sagt Taylor nun aberauch sie hätte das Ziel eines solchen Fülle-Erlebnisses in gleicher Weise wie die alte, darin unterschiede sie sich nicht. Sie müsse es nur in Ermangelung eines Gottessehr gezielt durch eigene Arbeit anstreben.

Die neue Welt ist eine Arbeitswelt. Über die ältere Kategoriedagegen muss ich jetzt konkret auf die Runkel-Welt bezogen sagen, dass es dort – – – genauso ist, denn der calvinistische Einfluss unserer Vorfahren macht es uns zur Auflage, „unsere Seligkeit mit Furcht und Zittern zu bewirken“ wie es an einer prominenten Stelle in der Bibel heißt. Also auch hier: Arbeit!

Es kommen in Eurer Ehe also zwei Kategorien zusammen, die nur auf den ersten Blick getrennt erscheinen. Und das könnte ein Erfolgsrezept für Eure Ehe sein, dass Ihr Euch hier vielleicht von Eurer Erziehung her sehr bald einig seid:Arbeiten, arbeiten, fleißig sein! Ein in seiner ganzen Fülle gelebtes Leben, ein erfülltes Leben, will erarbeitet werden.

Nun könnte ich also an dieser Stelle meine Rede in tiefemFrieden mit Euch allen lieben und geduldigen Zuhörernbeschließen. Wir sind uns einig. Arbeiten an der Fülle des Lebens“ ist unser Prinzip. Aber es bleibt ein unbefriedigendesGefühl, dass uns hier vielleicht alle gemeinsam beschleicht, egal zu welcher Kategorie wir uns zählen. Dieses Gefühl sagt: und wo bleibt das Geschenk, wo bleibt das Glückdas man sich nicht erarbeiten kann?

Vielleicht ist es gut, wenn ich diese Frage am Ende offen lasse und statt einer Antwort zu geben zwei Wünsche daraus mache. Ich wünsche Euch als erstes, dass Ihr Euch gemeinsam die Türen zu einem unbekannten Leben öffnet und dass es ein erfülltes Leben ist, und dasEuer Leben Stationen dieser Fülle erleben wird, auf die wir alle, jeder auf seine Weise, hoffen.

Und ich wünsche Euch als zweites, dass ihr diese Fülle nicht nur auf dem Weg über Eure Arbeit, sondern gelegentlich auch als Geschenk erhaltet. Fromm gesprochen wünsche ich euch Segen, Gottes Segen. Aus dem Buch von Charles Taylor lese ich den Rat an die säkularen Menschen der Kategorie zwei, dass sie sich den Weg zu einem solchen Segen nicht verstellen lassen sollten. Es ist einer der Wege, den die Menschen zu ihrem Glück gehen können. Man sollte ihn nicht vergessen, man weiß nie, ob man ihn nicht eines Tages braucht.

Und so schließe ich mit einem Wort aus der Runkel-Welt, das aber auch in jeder anderen Welt gedacht und gewünscht und gesprochen werden kann: Gott segne Euch!

*„In Swanns Welt“ Seite 136
** "A Secular Age"

Keine Kommentare: